Das Wertheimerhaus beherbergt heute das Österreichische Jüdische Museum.

Beim Kinoabend vor einigen Tagen in unserem Haus, an dem der beeindruckende Film „Zug des Lebens“ gezeigt wurde, sprach Architekt Dr. Klaus-Jürgen Bauer – wie immer an den Abenden des Wanderkinos – über den Ort, an dem der Kinoabend stattfindet. So an diesem Abend über unser Haus, das Wertheimerhaus … und überraschte selbst uns mit einer sensationell spannenden Aussage über die große Bedeutung unseres Hauses, aber lesen Sie selbst! Wir freuen uns, mit Klaus-Jürgen Bauer einen neuen ständigen Gastautor gewonnen zu haben.

Die Architektur des Schtetls in Film und Wirklichkeit

Der Film „Zug des Lebens“ von Radu Mihaileanu spielt zu einem großen Teil an einem sehr besonderen Ort, nämlich in einem jüdischen Schtetl. Wie das jiddische Wort lautmalerisch erklärt, ist ein Schtetl eine kleine Stadt, ein Stadtteil, in dem vor allem Juden leben, jedenfalls etwas anderes als eine schtot, also eine Stadt. Manès Sperber beschreibt das Lebensgefühl im Schtetl wie folgt:

Im Städtel gab es nicht eine Spur eines Minderwertigkeitsgefühls wegen der Zugehörigkeit zum Judentum und daher nicht die geringste Neigung, das eigene Wesen zu verhüllen oder wie die anderen zu werden.

Manès Sperber: Die Wasserträger Gottes

Wir kennen das Leben in den Schtetln vor allem aus Fotografien und aus der Literatur, kaum jedoch aus Filmen. Zu dem Zeitpunkt, als die Filmindustrie in der Lage war, aufwändigere Filmproduktionen auch außerhalb von Studios herzustellen, waren die vor allem osteuropäischen Schtetl leider schon unter der Dampfwalze der Vernichtung. Trotzdem gibt es ein paar polnische Spielfilme aus den späten dreißiger Jahren, wie z B. den Film Jiddl mitn Fidl aus dem Jahr 1936 von Joseph Green (Josef Grünberg), ein harmloser Heimatfilm mit viel Musik. Wir alle kennen das Remake dieses Filmes aus dem Jahr 1983, nämlich Barbra Streisands Yentl.

Der mit Abstand bedeutendste Film aus dem Schtetl kommt allerdings aus Deutschland. Im Jahr 1920 drehte nämlich Paul Wegener in den Ufastudios in Berlin-Babelsberg den Film Golem, wie er in die Welt kam. Dieser Film wurde einer der international größten Erfolge des deutschen Stummfilms, er war monatelang in den Vereinigten Staaten und sogar in China zu sehen. Im Film geht es um die Abenteuer des berühmten Prager Rabbis Judah Löw. Der eigentliche Star dieses Filmes ist jedoch nicht der Rabbi, sondern die expressionistische Judenstadt, das Schtetl, das niemand geringerer als der berühmte Berliner Architekt Hans Poelzig entworfen hatte. Dieses Bild einer pittoresken, plastischen, überwucherten romantischen Stadt prägte das märchenhafte Bild deutscher Städte bis heute. Was Poelzig für den Film baute, war allerdings nicht das Abbild einer romantischen deutschen Stadt, sondern eben eines osteuropäischen, jüdischen Schtetls. Stimmt das auch? Glücklicherweise können wir das überprüfen. Wir befinden uns ja heute Abend innerhalb eines ehemaligen Schtetls, des Schtelts A“SCH (EisenStadt).

Das „Wunder“ vom Palais im Schtetl

Wertheimerhaus 2011

Dieses Schtetl mag früher wie andere Schtetl auch durch eine Überfülle an Menschen geprägt gewesen sein, durch Armut, durch mittellose Handwerker, Kleinhändler und Taglöhner. Auf das Haus, in dem wir heute Abend zu Gast sind, trifft das jedenfalls ganz und gar nicht zu. Es ist so groß und so prächtig, dass es an einem Ort wie diesem eigentlich nicht sein sollte. Wie kommt also das Palais ins Schtetl?

Der Erfinder dieses paradoxen Hauses – dessen Fassade ich übrigens ab dem Jahr 2003 renovieren durfte – war Samson Wertheimer, ein Wiener Hofjude und Gelehrter, ein Kreditgeber und Finanzberater des Kaiserhauses. Kurz vor dem Jahr 1700 wurde dieser Herr Wertheimer von der jüdischen Gemeinde Eisenstadt zum Ehrenrabbiner und vom Kaiser zum ungarischen Landesrabbiner ernannt, worauf sich der so Geehrte mit 61 Jahren – im Jahr 1719 – dieses Palais hier errichten ließ, das immerhin nach dem Schloss Esterházy der größte und bedeutendste Profanbau Eisenstadts ist!
Dieses Palais orientiert sich jedenfalls ganz und gar nicht an romantischer und expressionistischer Kleinstadtarchitektur, sondern an viel ferneren Ideen: hinter dem Palais Wertheimer in Eisenstadt steht das absolute Idealbild aller Architekturen jener Zeit, der Ur-Palast gewissermaßen, nämlich der Palazzo Farnese von Michelangelo in Rom. Ein ziemliches Statement, finde ich, inmitten der damals weitgehend erdgeschossigen, vielfach noch hölzernen Gebäude der Kleinstadt Eisenstadt. Hier wollte jemand definitiv nicht das eigene Wesen verhüllen, wie Sperber sagte, sondern ganz im Gegenteil: hier wollte jemand ein sehr, sehr deutliches Zeichen setzen. Die heutige lindgrüne und steingraue Fassung geht übrigens auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück.

Jetzt geht es für uns alle zurück, nämlich in das Schtetl des Jahres 1941. Einer der Wesenszüge der jüdischen Kultur ist ja das Wundersame: und so, wie im Jahr 1941 ein Zug ins Schtetl gelangte, so gelangte wohl auch im Jahr 1719 ein Palais in das Schtetl. Oder – um es mit Arik Brauer zu sagen -:

scho wieder so a Wunder