Besonders schön ist es, wenn Menschen, die sozusagen beruflich nichts mit jüdischen Museen oder jüdischen Friedhöfen zu tun haben, uns Bilder und Geschichten schicken, wie sie „jüdische Orte“ erlebt haben.
Hedda Pflagner, eine liebe Freundin, die oft zu unseren Veranstaltungen ins Museum kommt, rief mich vor 2 Monaten an und erzählte mir, dass sie schon 2007 einen winzig kleinen, sehr idyllisch gelegenen jüdischen Friedhof in Ungarn entdeckt (mit Gräbern der Familien Österreicher, Rechnitzer, Fürst, Rosenberg und Pollak usw.), diesen in 11 Jahren immer wieder besucht (und fotografiert) hat und in den nächsten Wochen wieder dorthin reisen würde…
Einige Wochen später schickte Hedda ihre Bilder und ihre Geschichte, die wir hier originalgetreu wiedergeben wollen:

Der jüdische Friedhof von Karmacs bei Hévíz (Ungarn).
Meine persönliche Geschichte mit diesem Ort.




Im Mai 2007 entdeckte ich bei einer Wanderung zufällig einen völlig verwachsenen Platz, umgeben von Bäumen und, wenn man näher kam, so etwas wie Mauerresten.
Von der Weite war nicht wirklich erkennbar, was sich hinter diesen Mauerresten verbarg, die in der Nähe einer kleinen Nebenstraße lagen, die von Hévíz (in der Nähe von Keszthely am Plattensee in Ungarn) nach Sümeg führt, vielleicht zwei Kilometer entfernt von einem kleinen Dorf, das sich Karmacs nennt, abseits vom Touristenstrom und unscheinbar. Inmitten von Feldern und kleinen Wäldchen in einem Gebiet mit sanften Hügeln und Kanälen, die vom Hévízer Thermalsee wie ein Netz die einsame Gegend durchziehen.

Meine Neugier war geweckt. Ich kletterte über die zerfallenen Mauerreste – und kam aus dem Staunen nicht heraus. Ich fand einen vergessenen kleinen jüdischen Friedhof vor, dessen Grabsteine aber gut erkennbar und die Inschriften noch gut lesbar waren. Ich bahnte mir einen Weg durch Gestrüpp und Dornen und gab mich der friedlichen, schlafenden Atmosphäre hin, die dieser Ort verströmte. Viele Namen konnte ich entziffern und machte die ersten Fotos und unwillkürlich kamen Gedanken hoch, was wahrscheinlich mit den Menschen geschehen war, deren Vorfahren hier einst gelebt haben mussten. Denn die meisten Inschriften bezeugten, dass die Menschen, die hier begraben sind, im 19. Jahrhundert geboren worden waren und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, noch vor 1938, gestorben waren.
Niemand mehr war hier, um sich um die Vorfahren kümmern zu können, und so muss dieser friedliche Ort in Vergessenheit geraten sein.

Wir haben auf Heddas Frage nach den Schicksalen eine Antwort gefunden: 14 Juden wurden 1944 von Karmacs nach Zalaegerszeg und von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet. Es sind zum Großteil dieselben Nachnamen, die wir auch auf dem Friedhof finden: Pollak, Reich, Stroch, Rosenberg, Weisz…




Als ich das nächste Mal im Oktober 2007 in dieser Gegend war, suchte ich den Friedhof wieder auf. Er lag genauso verlassen und verwachsen vor mir, nur dass sich inzwischen der Herbst eingestellt hatte und die Vegetation lichter geworden war und mehr Durchblicke zuließ. Die Felder rundherum lagen brach danieder und die Blätter der umliegenden Bäume hatten bunte Herbstfarben angenommen.



Dann erfolgte eine lange Pause.
Schließlich, im Juni 2011, führte mich mein Weg wieder zum kleinen Friedhof.
Irgendetwas war geschehen.
Ein Teil der Schatten spendenden Bäume war weg, drinnen aber wucherte nach wie vor das Unkraut, das grün und saftig in die Höhe geschossen war und die niedrigeren Grabsteinreste fast völlig verdeckte. Dornenhecken gab es aber keine mehr. Alles sah so noch mehr vergessen aus als vorher.



Im November 2013 nahm ich schließlich wahr, dass der Friedhof „wiederentdeckt“ worden war. Die Mauerreste waren instand gesetzt, man hatte nur 2 Bäume stehen gelassen, und es gab plötzlich ein Eingangstor und einen Gedenkstein, der offenbar besagte (ich spreche nicht Ungarisch), dass man im November 2012 den Friedhof renoviert hatte. Der Boden drinnen war gerodet und sah gepflegt und ordentlich aus.
Trotzdem wirkte alles irgendwie nackt und lud nicht mehr so ein, Geschichten im Kopf entstehen zu lassen, in denen ich mir vorstellte, welche Menschen hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten und was aus ihren Nachfahren geworden war.



Wieder verging lange Zeit.
Im Februar 2018 besuchte ich den stillen Ort wieder.
Es war bitterkalt und feuchte Nebelschwaden durchzogen die Winterlandschaft.
Diesmal fuhr ich mit dem Auto hin – inzwischen weiß ich ja recht gut, wo der Friedhof liegt und wie man hinkommen kann!
Alles war unverändert, nur der Eifer der Pflege schien etwas nachgelassen zu haben. Wie sonst lässt sich erklären, dass das Eingangstor klemmte und man offenbar das Holz aus der Einfassung gerissen hatte, um so ins Innere klettern zu können? Auch ein Stück der Mauer war umgerissen worden und es war ein großes Loch entstanden. Die Dornen rankten sich zumindest an der Außenseite wieder an der Mauer empor.
Auch ich gelangte durch das Loch in der zerstörten Tür hinein und erwies den alten, schon bekannten Grabsteinen meine Ehre.

Als es in den Tagen danach schneite, fuhr ich noch einmal hin.
Eine sanfte Schneedecke tünchte alles in ein kaltes, aber friedliches Weiß…