Koschere Melange

Das Blog des Österreichischen Jüdischen Museums - ISSN 2410-6380

Der Herr segne und behüte dich. Von Mr. Spock bis zur Schlange der Ewigkeit I

Symbole auf jüdischen Grabsteinen Prolog Der Artikeltitel war der Titel meines kleinen Vortrages in der Langen Nacht der Museen gestern, am 01. Oktober 2022. Die Idee zum Thema kam eigentlich…

Symbole auf jüdischen Grabsteinen

Prolog

Der Artikeltitel war der Titel meines kleinen Vortrages in der Langen Nacht der Museen gestern, am 01. Oktober 2022.

Die Idee zum Thema kam eigentlich zufällig, als ich am jüdischen Friedhof Kobersdorf vor einigen Monaten ein Symbol aktiv wahrnahm, das ich zuvor noch nie auf einem anderen jüdischen Friedhof des Burgenlandes gesehen hatte: Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, der Ouroboros, der auch als „Schlange der Ewigkeit“ bekannt ist. Nun galt es einerseits zu verifizieren, ob diese spezielle Form der Schlange nur auf Grabsteinen am jüdischen Friedhof Kobersdorf zu finden ist oder auch auf anderen jüdischen Friedhöfen. Ich darf es vorwegnehmen, so viel sei schon verraten: ja, den Ouroboros gibt es nicht nur in Kobersdorf, nicht aber in Eisenstadt!

Bei der Suche stieß ich allerdings zu meiner großen Verwunderung auf viele andere, vielleicht nicht ganz so spektakuläre, aber sehr schöne Symbole, besonders auf dem älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt: Tiere, Blumen, Namenssymbole usw.

Mit diesem Artikel soll eine kleine Serie beginnen, bei der die Symbole auf jüdischen Grabsteinen, vor allem auf jüdischen Friedhöfen im Burgenland, nicht nur vorgestellt, sondern auf ihre jüdische Tradition hin untersucht werden.

Aber wir beginnen heute sozusagen mit „Adam und Eva“, mit den wohl schon bekannten segnenden Priesterhänden.

Quasi ein PS: Ich gestehe, mich bisher noch nie mit den Symbolen (außer den gängigen genuin jüdischen) intensiver beschäftigt zu haben, was bis zu einem gewissen Grad auch damit zusammenhängt, dass ‒ unterm Strich ‒ einerseits der Befund auf beiden jüdischen Friedhöfen in Eisenstadt relativ dünn ist und andererseits viele der Symbole auf den Grabsteinen heute ohne intensive vorsichtige Bearbeitung praktisch so gut wie nicht zu sehen oder zu erkennen sind.


Segnende Priesterhände

Beim Segen erhebt der Priester seine Hände mit der charakteristischen Fingerhaltung, bei der kleiner Finger und Ringfinger sowie der Daumen von Zeige- und Mittelfinger abgespreizt werden. Damit soll der hebräische Buchstabe ש „SCHIN“ assoziiert werden, der Anfangsbuchstabe des Wortes אֵ֣ל שַׁדַּ֔י „(El) Schaddai“ (der Allmächtige).

Mini-Exkurs

Der Priestersegen heißt Hebräisch „Birkat Kohanim“ oder „Nesijat Kapajim“ (wörtl: „Heben der Hände“) und ist unter aschkenasischen Juden auch als „Duchanen“ (s. u. das Video mit Leonard Nimoy) bekannt (s. auch The Mitzvah of „Duchening“ – Birchas Kohanim„). („Duchan“ ist das aramäische Wort für die Plattform vor dem Toraschrein, siehe etwa babylonischer Talmud, Traktat Schabbat 118b „וְאָמַר רַבִּי יוֹסֵי: מִיָּמַי לֹא עָבַרְתִּי עַל דִּבְרֵי חֲבֵרַי. יוֹדֵעַ אֲנִי בְּעַצְמִי שֶׁאֵינִי כֹּהֵן, אִם אוֹמְרִים לִי חֲבֵירַי: עֲלֵה לַדּוּכָן — אֲנִי עוֹלֶה. „Ferner sagte R. Jose : Nie im Leben habe ich die Worte meiner Genossen übertreten. Ich selber weiß, dass ich kein Priester bin, trotzdem würde ich die Plattform besteigen, wenn meine Genossen mich dazu auffordern würden.“)


Die segnenden Priesterhände stehen für die Abstammung aus dem aaronidischen Priestergeschlecht. Die Priester, hebräisch Kohanim (Einzahl: Kohen), waren im Tempel für die Opferdarbringung und für das Sprechen des Segens (Priestersegen / Aaronitischer Segen, 4. Buch Mose (Numeri) 6,22-26) zuständig:

Inschrift Aaronitischer Segen: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[Num 6,22] Der HERR sprach zu Mose: וַיְדַבֵּ֥ר יְהֹוָ֖ה אֶל־מֹשֶׁ֥ה לֵּאמֹֽר׃
[Num 6,23] Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: דַּבֵּ֤ר אֶֽל־אַהֲרֹן֙ וְאֶל־בָּנָ֣יו לֵאמֹ֔ר כֹּ֥ה תְבָרְכ֖וּ אֶת־בְּנֵ֣י יִשְׂרָאֵ֑ל אָמ֖וֹר לָהֶֽם׃ {ס}
[Num 6,24] Der HERR segne dich und behüte dich. יְבָרֶכְךָ֥ יְהֹוָ֖ה וְיִשְׁמְרֶֽךָ׃ {ס}
[Num 6,25] Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. יָאֵ֨ר יְהֹוָ֧ה ׀ פָּנָ֛יו אֵלֶ֖יךָ וִֽיחֻנֶּֽךָּ׃ {ס}
[Num 6,26] Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden. יִשָּׂ֨א יְהֹוָ֤ה ׀ פָּנָיו֙ אֵלֶ֔יךָ וְיָשֵׂ֥ם לְךָ֖ שָׁלֽוֹם׃ {ס}


Der 2016 verstorbene Singer-Songwriter, Dichter und Maler Leonard Cohen wurde als Kohen geboren und 1996 zum buddhistischen Mönch ordiniert. Am 24. September 2009, am Ende seines Konzerts in Tel Aviv, spricht er den Priestersegen:


In der hebräischen Bibel wird das dritte Buch Mose (Levitikus; hebr.: Wa-jikra) auch als „Torat haKohanim“ (Weisung für die Priester) bezeichnet, weil es in diesem Buch vor allem um die Arbeit der Kohanim im Stiftszelt und später im Jerusalemer Tempel geht. Die Kohanim kommen aus dem Stamm Levi, sind also eine Untergruppe der Leviten.
Aaron, der Bruder des Mose, wurde von diesem zum ersten „Großen Kohen“ geweiht, alle späteren Kohanim stammen daher von Aaron ab.

Da die Abstammung über die männliche Linie vererbt wird, findet man das Symbol vor allem auf Grabsteinen von männlichen Angehörigen aus dem Priestergeschlecht, meist mit dem Namen, später dem Beinamen „Kohen“, „Kohn“, „Kahn“, „KaZ“ usw. Siehe zum Beispiel Samuel Cohen, gestorben 1791 und am älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt begraben.
כ“ץ „KaZ“ ist eine Abkürzung für „Kohen Zedek“ „gerechter Priester“ wie bei Rabbiner Karl Klein (gestorben 1930 und begraben am jüngeren jüdischen Friedhof von Eisenstadt), hebräisch: Chaim Akiba KaZ (oder Ka’tz), Zeile 6.

Der Kohen darf sich nicht rituell verunreinigen. So ist es ihm verboten, mit einem toten Körper in Berührung zu kommen oder sich auch nur unter dem selben Dach aufzuhalten, unter dem sich auch ein Leichnam befindet. Der Kohen darf keinen Friedhof betreten, außer er achtet im Freien auf die Distanz von 192cm zum Grab oder zum Sarg. Kohanim werden häufig auch am Rand des jüdischen Friedhofes oder in einer Ecke des Friedhofes begraben, damit sie sich beim Besuch eines Grabes eines oder einer Verwandten nicht verunreinigen. Allerdings muss der Kohen am Begräbnis der nächsten Verwandten (Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Brüder väterlicherseits und nie verheirateten Schwestern väterlicherseits) teilnehmen und sich dabei verunreinigen.

Kohanim-Gräber an der Mauer, jüdischer Friedhof Lackenbach

Kohanim-Gräber an der Mauer, jüdischer Friedhof Lackenbach. Selbstverständlich war vor 1938 die Friedhofsmauer nicht so hoch!


Wenn aus der Tora gelesen wird (also am Schabbat, an Fastentagen oder am Montag und Donnerstag während des Morgengebetes…), werden je nach Anlass fünf, sechs oder sieben Personen zur Tora gerufen. Der erste Aufruf (die erste Alija) gilt immer einem Kohen, der zweite einem Levi. Wenn kein Kohen anwesend ist, wird er durch eine andere Person ersetzt, ist kein Levi anwesend, dann soll er durch den zuvor aufgerufenen Kohen ersetzt werden.

Viele weitere Regelungen, die den Kohen vor allem in Bezug auf die kultische Reinheit betreffen, siehe etwa Die Reinheit des Kohens„.

Dazu passt eine Geschichte, die uns vom berühmten, wundertätigen und langjährigen Rabbiner der jüdischen Gemeinde Deutschkreutz übermittelt ist: Rabbi Menachem Wannfried KaZ-Prossnitz (geb. 1795, Rabbiner in Deutschkreutz von 1840 bis zu seinem Tod 1891) hatte beim großen Chatam Sofer in Pressburg studiert und galt als dessen gelehrigster Schüler. So wurde er für seine Treue von Chatam Sofer sogar in dessen privaten Studierstube in die Kabbala, die jüdische Mystik, eingeweiht. Als Chatam Sofer am Sterbebett lag, besuchte ihn Rabbi Menachem Prossnitz und wurde vom Grauen gepackt, als er die Hand seines Lehrers ergriff, die sich wie aus Stein anfühlte. Chatam Sofer freute sich über den Besuch und deutete dann dem Rabbi Menachem das Zimmer zu verlassen, denn „ich sterbe“. Rabbi Menachem Prossnitz war ein Kohen und durfte sich daher nicht unter einem Dach mit einem Toten befinden [1].

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass sich am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt bei 1.100 Grabsteinen nur 8 Grabsteine mit dem Symbol der segnenden Hände befinden.
Am jüngeren jüdischen Friedhof findet sich kein einziges Symbol der segnenden Hände, begraben sind, soviel wir wissen, nur der o.g. Rabbiner Karl Klein KaZ (ohne Symbol) und eine Frau, Rachel Kohn (verheiratet mit einem Kohen) und mit dem Symbol der Trauerweide am Grabstein.

Eine alte, v.a. mündlich überlieferte Geschichte aus dem ehemaligen jüdischen Viertel von Eisenstadt erklärt uns, dass sich vor allem in der neueren Zeit Kohanim nicht in Eisenstadt ansiedeln wollten. Weil sie nicht wussten, wo sich der jüdische Friedhof des mittelalterlichen jüdischen Viertels von Eisenstadt befunden hat. Mit der Nichtansiedelung wollten sie vermeiden, irrtümlich sozusagen Friedhofsgelände zu betreten.

Am Rande nur angemerkt sei, dass der Priestersegen in der Fernsehserie „Star Trek“ auch als vulkanischer Gruß bekannt ist. Wie es dazu kam, also die jüdischen Hintergründe, erklärt Leonard Nimoy (Mr. Spock), der selbst zwar in eine orthodoxe jüdische Familie geboren wurde, aber kein Kohen war:


In wenigen Tagen, zu Sukkot (Laubhüttenfest, heuer ab 9. Oktober Abend), wird der Priestersegen in Israel von hunderten Kohanim gesprochen und über Lautsprecher an die Westmauer in Jerusalem übertragen (genauso zu Pesach; siehe etwa den Birkat Kohanim Sukkot 2015).



[1] Siehe v.a. Shlomo Spitzer, Die jüdische Gemeinde von Deutschkreutz, Wien 1995 [Zurück zum Text (1)]


2 Kommentare zu Der Herr segne und behüte dich. Von Mr. Spock bis zur Schlange der Ewigkeit I

Gelehrte, Rabbiner und ein Geizhals

Krakau: Im jüdischen Viertel Kazimierz Die Einladung zu einem Vortrag führte mich vergangene Woche nach Krakau. Besondere Faszination auf mich hat der alte jüdische Friedhof, besser bekannt als REMU- oder…

Krakau: Im jüdischen Viertel Kazimierz

Die Einladung zu einem Vortrag führte mich vergangene Woche nach Krakau.

Besondere Faszination auf mich hat der alte jüdische Friedhof, besser bekannt als REMU- oder REMA-Friedhof, der 1552 angelegt wurde und auf dem sich Grabsteine befinden, die zu den ältesten Polens gehören. Allerdings muss deutlich angemerkt werden, dass der Friedhof heute zu einem überwiegenden Teil eher ein Lapidarium als ein Friedhof im engeren Sinn des Wortes ist, da sehr viele Grabsteine nicht auf ihrem ursprünglichen Platz stehen.

Nach der weitgehenden Zerstörung des Friedhofes in der Schoa sind nur wenige Grabsteine erhalten geblieben. Unter diesen war das Grabdenkmal von Rabbiner Moses Isserles (hebräisches Akronym: רמ“א REMA oder REMU, auch genannt der Maimonides Polens“), der Lag Ba-Omer 332 = 1. Mai 1572 starb und Vorfahre von Moses Mendelssohn und Felix Mendelssohn-Bartholdy war.
Als der erste Nazi ansetzte, seinen Grabstein zu zerstören, soll er wie vom Blitz getroffen, tot umgefallen sein. Danach verzichteten die Deutschen auf die Zerstörung, für viele Juden ein Beweis für die Wunderkraft des Rabbiners.
Das Grab von Rabbiner Moses Isserles, der vor allem durch sein umfangreiches Kommentarwerk berühmt wurde, ist das Ziel tausender orthodoxer Jüdinnen und Juden aus aller Welt.

Auf seinem Grabstein ist in der vierten Zeile von unten zu lesen:

ממשה עד משה לא קם כמשה בישראל
Von Moses (Maimonides) bis Moses (Isserles) war in Israel keiner wie Moses.

Neben Moses Isserles befinden sich die Grabsteine seiner 1617 verstorbenen Schwester Mirjam Bella Horowitz und seines Vaters Israel ben Josef, Kaufmann und Bankier, gest. 1568, dem Stifter der REMU-Synagoge, die sich gleich neben dem Friedhof befindet. Bei diesen beiden Grabsteinen ersetzen die senkrechten Vorderplatten die zerstörten originalen Grabdenkmäler.

Ganz hinten am Friedhof finden wir den Grabstein des großen Rabbiners und Gelehrten sowie Schüler des als Rabbi Löw bekannten Maharal von Prag, Gerschon Saul Jomtov Lipmann Heller, und gleich neben ihm, fast unscheinbar, das Grab von „Jossel, dem heiligen Geizhals“.

Jomtov Lipmann Heller kam 1625 als Rabbiner nach Wien, nachdem er zuvor schon Rabbinatsassessor in Prag und ab 1624 Rabbiner in Nikolsburg gewesen war. Nur zwei Jahre blieb er in Wien, 1627 findet man ihn schon wieder in Prag.

„Wiewohl die Gemeinde von Wien durch Ehrenbezeugungen und Geldspenden mich zu behalten suchte, trug mich mein Herz dennoch nach Prag“

schreibt Heller in seinen Erinnerungen (zitiert nach Brugger, Keil u.a., Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, 290)

…dass es sich bei dem Wechsel nach Prag eindeutig um einen beruflichen Aufstieg handelte. Aber auch in dieser Position blieb er nicht lange… wurde er 1629 beim Kaiser wegen Bestechlichkeit und Verletzung der Religion durch seine Schriften denunziert, worauf er nach Wien gebracht wurde und dort 40 Tage inhaftiert war, bis die Wiener Judenschaft eine Kaution in Höhe von 10.000 Gulden für ihn erlegen konnte…
Unehrenhaft entlassen, war Heller nun an verschiedenen Rabbinaten tätig, bis er schließlich 1654 in Krakau starb.

Brugger, Keil u.a., Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, 290)

Aber warum sind die beiden, der große Gelehrte und Rabbiner und der Geizhals nebeneinander begraben? Wir haben die Geschichte schon auf unserer Facebookseite kurz erzählt, sie sei aber hier noch einmal erwähnt, da es kaum deutschsprachige Quellen für sie gibt.

Jossel war im 17. Jahrhundert ein reicher Bürger des jüdischen Viertels von Krakau und ‒ so glaubten alle ‒ zu geizig, um Zedaka (Wohltätigkeit) zu üben. Als er starb, begruben sie ihn daher ganz hinten am jüdischen Friedhof, wo die Armen und Verstoßenen liegen. Aber unmittelbar nach seinem Tod brach Armut über das jüdische Viertel herein und die Menschen erkannten plötzlich, dass Jossel sie immer geheim mit Geld und Gütern versorgt hatte. Sie baten ihren Rabbiner um Hilfe. Dieser ließ am Grabstein von Jossel den Zusatz „HaZadik“ (der Gerechte) eingravieren. Der Rabbiner soll Jomtov Lipmann Heller gewesen sein, der verfügte, nach seinem Tod 1654 neben Jossel begraben zu werden.

Literaturnobelpreissträger Isaac Bashevis Singer setzte Rabbiner Jomtov Lipmann Heller in seinem Erstlingswerk „Satan in Goraj“ (1934) in der Gestalt des Rabbi Benisch Aschkenasi ein literarisches Denkmal (übrigens: die Ehefrau von Rabbiner Heller war Rachel, Tochter des Aaron Moses Aschkenasi). Nach dem großen Pogrom durch die Kosaken und Tataren (siehe Chmelnzkyj-Aufstand) warteten und hofften die Bürger Gorajs auf das baldige Erscheinen des Messisas, der in Gestalt des Schabbtai Zvi, geboren 1626 in Smyrna (heutige Türkei) erscheinen sollte. Der böse und dämonische Gedalja treibt die Menschen von Goraj zu immer wüsteren Handlungen, ein Mädchen stirbt schließlich, Rabbi Benisch hatte Goraj zu diesem Zeitpunkt längst in Richtung Lublin verlassen.

Die letzten Bürger, die nach Goraj zurückkehrten, waren der alte und hochangesehene Rabbi Benisch Aschkenasi und Reb Eleasar Babad, früher der reichste Mann der Gemeinde und ihr Vorsteher…

Rabbi Benisch Aschkenasi war der Nachfolger vieler Generationen von Rabbis. Er, der Verfasser von Kommentaren und Responsen, Mitglied des Rates der Vier Provinzen, galt als einer der klügsten und gelehrtesten Männer seiner Zeit…

Gegenüber von REMU-Synagoge und Friedhof befindet sich eine umzäunte Grünfläche, auf der sich am südlichen Ende ein Denkmal für die 65.000 in der Schoa ermordeten Jüdinnen und Juden aus Krakau befindet. Der Zaun besteht aus aneinandergereihten Menorot (siebenarmigen Leuchtern), die bebaumte Grünfläche war einst der Vorgängerfriedhof des REMU-Friedhofes, bestand also bis 1552.

Diese Fläche bzw. dieser einstige Friedhof hängt mit einer Legende zusammen, die variantenreich erzählt wird und die örtliche Tradition, am Freitag keine Hochzeiten abzuhalten, erklärt:

Ein reicher Jude in Krakau beschloss seine Tochter mit einem geeigneten Kandidaten, also einem Ehemann aus einer ebenso reichen Familie aus einer anderen Stadt, zu vermählen. Die Hochzeitsfeier sollte in dem Haus vor der REMU-Synagoge stattfinden.

Die Trauung war zwar für Freitagmittag geplant, aber eben um diese Zeit war klar, dass die Familie des Bräutigams nicht rechtzeitig nach Krakau kommen würde. Es war bald auch klar, dass es nicht zu schaffen ist, die Feierlichkeiten vor Beginn des Schabbat abzuhalten.

Der Vater der Braut, ein sehr frommer Jude, wollte die Feier verschieben, doch die Eltern des Bräutigams wollten davon nichts wissen. Der Rabbiner, vom Brautvater um dringenden Rat gebeten, riet ihm, eine kurze Hochzeit abzuhalten und danach gleich in die Synagoge zu kommen und zu beten.

Die Feierlichkeiten begannen, die Gäste feierten ausgelassen, tanzten bei lauter Musik, aßen und tranken reichlich. Niemand bemerkte oder wollte bemerken, wie spät es wurde und dass die Zeit des Schabbats gekommen war. Sie hörten also nicht auf den Rat des Rabbiners und die Strafe folgte auch sogleich:

Plötzlich fing die Erde an zu beben und öffnete sich unter den Füßen der Hochzeitsgäste. Das Haus, in dem die Hochzeit stattfand, wurde von der Erde verschlungen, alle Hochzeitsgäste lebendig begraben. Niemand wagte es sie auszugraben, die Stelle wurde zugeschüttet und umzäunt.

Angeblich kann man bis heute in der Nähe der Synagoge das Gejammer und Geflüster der Hochzeitsgäste hören.

Siehe v.a. Skora Jaroslaw, Krakauer Legenden, o.O. 2018

Soweit die Legende. Ganz erfunden ist das alles nicht, es gab wirklich unter Rabbiner Moses Isserles eine Hochzeit im 16. Jahrhundert in Kazimierz. Da die Braut eine Waise war und die im Ehevertrag vereinbarte Mitgiftsumme nicht rechtzeitig eingetroffen ist, schob der Rabbiner den Schabbatgottesdienst zeitlich etwas nach hinten, bis die Summe eingetroffen war. Obwohl er dafür von vielen Gelehrten scharf kritisiert wurde, verteidigte er seine Haltung vehement und mit großer Gelehrsamkeit: Dass nämlich das Verbot, am Schabbat Hochzeiten abzuhalten, nicht unmittelbar aus der Tora abgeleitet wurde, sondern von den rabbinischen Gelehrten. Und dass diese doch mit diesem Gesetz sicher nicht einer armen Waisen schaden wollen.


Nicht weit vom alten jüdischen Friedhof liegt der sogenannte neue jüdische Friedhof, der aber hier nur kurz erwähnt werden soll. Um 1800 entstanden, befinden sich auf 4.5 Hektar etwa 10.000 Grabsteine. Einige Fotos sollen einen ersten, nur überblicksmäßigen Eindruck des Friedhofes vermitteln:


Keine Kommentare zu Gelehrte, Rabbiner und ein Geizhals

Schawu’ot 5782

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern unserer Koscheren Melange ein fröhliches Schawu’ot! חג שבועות שמח! Am 2. Tag von Schawuot wird traditionell das biblische Buch Rut gelesen. Dieses hat 4…

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern unserer Koscheren Melange ein fröhliches Schawu’ot!

חג שבועות שמח!


Am 2. Tag von Schawuot wird traditionell das biblische Buch Rut gelesen. Dieses hat 4 Kapitel und 85 Verse. Rut ist eine der fünf Festrollen (Megillot, neben Ester, Hoheslied, Kohelet und Klagelieder).

Im 4. Kapitel, Vers 12, wird auch Tamar erwähnt:

Dein Haus gleiche dem Haus des Perez, den Tamar dem Juda geboren hat, durch die Nachkommenschaft, die der HERR dir aus dieser jungen Frau geben möge.

Tamar ist die Schwiegertochter von Juda, der sie unwissentlich geschwängert hatte. Die Geschichte kennen wir aus Genesis 38:
Juda, der vierte Sohn Jakobs, sah am Wegesrand Tamar, die er für eine Dirne hielt und wollte zu ihr kommen. Sie verlangte von ihm als Pfand für den von ihm versprochenen Ziegenbock seinen Siegelring, seine Schnur und den Stab in seiner Hand. Tamar wurde schwanger, was dem Juda gemeldet wurde. Dieser verfügte, dass sie wegen der begangenen Unzucht verbrannt werden sollte.

Als man sie hinausführte, schickte sie zu ihrem Schwiegervater und ließ ihm sagen: Von dem Mann, dem das gehört, bin ich schwanger. Auch ließ sie sagen: Sieh genau hin: Wem gehören der Siegelring, die Schnüre und dieser Stab?

Genesis 38,25

Juda erkannte sein Pfand und dass Tamar im Recht war, da Juda ihr einen Kindsvater, nämlich seinen jüngsten Sohn Schela, verweigert hatte. Tamar gebar die Zwillinge Perez und Serach.

Die jüdische Holzschnitt-Bilderbibel des Moses dal Castellazzo (1466-1526) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts ist einer der schönsten Beweise für die Existenz eines im 15. Jahrhundert vorhandenen rabbinisch-jüdischen Bibelbilderzyklus.
Moses dal Castellazzo, Sohn des Gelehrten Abraham Sachs, der im 15. Jahrhundert aus Deutschland nach Italien eingewandert war, wurde schon in jungen Jahren mit der religiösen jüdischen Traditionsliteratur vertraut gemacht. 1521 bat er den Dogen von Venedig um die Gewährung des Privilegs, eine von ihm geschaffene Holzschnittfolge zu den fünf Büchern Mose zehn Jahre lang allein im Raum von Venedig drucken und verkaufen zu dürfen. Das Original dieser Holzschnitt-Bilderbibel ist heute nicht mehr erhalten, das Druckverfahren, dessen sich Moses bediente, war völlig veraltet und eine billige Technik, um nicht wohlhabende Käuferschichten zu erreichen. Dabei wurden auch die Sprachen der Käufer berücksichtigt: Italienisch, Judendeutsch und vielleicht Spagnolisch.

Eine der beiden Bibelszenen im Werk des Moses dal Castellazzo, die ihre Vorlagen im 11. Jahrhundert haben, ist die Darstellung von der Verurteilung Tamars zum Tod auf dem Scheiterhaufen durch Juda:

Bilderbibel des Moses dal Castellazzo, Folio 34, Verurteilung Tamars zum Tod

Bilderbibel des Moses dal Castellazzo, Folio 34, Verurteilung Tamars zum Tod


Keine Kommentare zu Schawu’ot 5782

100 Jahre – und unerfüllte Hoffnungen

Ich hatte am Freitag, 22. Oktober 2021, die Ehre, die Festrede in der Festsitzung „100 Jahre Burgenland“ des Gemeinderates der Freistadt Eisenstadt halten zu dürfen. Die Fassung hier ist nur…

Ich hatte am Freitag, 22. Oktober 2021, die Ehre, die Festrede in der Festsitzung „100 Jahre Burgenland“ des Gemeinderates der Freistadt Eisenstadt halten zu dürfen. Die Fassung hier ist nur leicht überarbeitet und ergänzt (bes. mit Bildern, Fußnoten und Links):

Die 100 Jahre, die das Burgenland heuer feiert, spielen aus jüdischer Sicht so gut wie keine Rolle, zumindest keine, die es zu feiern gilt. Man darf aus jüdischer Perspektive im Burgenland vielleicht sogar von 1.800 Jahren sprechen, denken wir an das Ende der 1990er Jahre in Halbturn gefundene jüdische Amulett. Aus jüdischer Eisenstädter Perspektive dürfen wir immerhin von 750 Jahren Besiedlungsgeschichte sprechen. In Eisenstadt existierte jedenfalls nachweisbar im Mittelalter die einzige voll ausgebildete jüdische Gemeinde des Burgenlandes [1].

Was ist also in diesen letzten 100 Jahren passiert (und passt in die mir zur Verfügung gestellte Zeit):

Jüdisches Viertel Eisenstadt, Haus in der Unterbergstraße, um 1920

Jüdisches Viertel Eisenstadt, Haus in der Unterbergstraße, um 1920



Vor 100 Jahren, genau im Jänner 1921, publizierte der gelehrte Bibliothekar der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Bernhard Wachstein, ‒ er war aus Galizien nach Wien gekommen und ist am Zentralfriedhof Wien, Tor IV, also in der neuen jüdischen Abteilung, begraben ‒ sein bahnbrechendes Werk über den älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt [2]. Das Geleitwort zu diesem Buch schrieb der Eisenstädter Alexander Sandor Wolf: Ich zitiere nur einige wenige Sätze daraus:

Die stille kleine Stadt lag abgeschieden von der großen Welt, die Hauptverkehrswege führten abseits vorbei, die Kaiserstadt, nur eine Tagesreise entfernt, zog alles, was tatkräftig und regsam war, an sich, zurück blieben beschaulich lebende Menschen. …

Unversehrt blieb sie stehen, die Gemeinde, mit ihren Toren und Ketten, die Samstag geschlossen werden, und mit den offenen warmfühlenden Herzen der Bewohner, die in Leid und Freud zusammenstanden, ein Musterbeispiel jüdischer Zusammengehörigkeit, vorbildlich in ihren dem Kultus und der Nächstenliebe dienenden Einrichtungen.

Anmerkung: Im Umsturzjahr 1918 wurde die Vereinigung der Judengemeinde, die auch eine selbständige politische Gemeinde ist, mit den anderen vier Gemeinwesen Eisenstadts beschlossen, im weiteren Verlauf wurde der Beschluss nicht durchgeführt, so dass hoffentlich noch lange Jahre diese Selbständigkeit der Judengemeinde erhalten bleibt.

Alexander Sandor Wolf hat bei diesen Worten wohl an mehr als 17 Jahre, ganz offensichtlich weit über 1938, hinausgedacht. Er selbst war in diesem Jahr (1938) schon über Triest nach Haifa emigriert.

Jüdisches Viertel Eisenstadt, oberer Teil der Unterbergstraße, um 1920

Jüdisches Viertel Eisenstadt, oberer Teil der Unterbergstraße, um 1920



Drei Jahre später, im Dezember 1924, war die jüdische Welt in Eisenstadt aber noch in Ordnung, glaubt man dem Bibliothekar und Archivar Leopold Moses, der in Mattersdorf geboren und 1943 in Auschwitz ermordet wurde:

Bei der nichtjüdischen Bevölkerung herrscht vielmehr Verständnis für die Eigenart des jüdischen Bevölkerungsteiles, da hier die Juden diese Eigenart auch viel freier zur Schau tragen und stolzer betonen als sonst irgendwo in Mitteleuropa. Dort wäre nicht denkbar, was ich neulich in der Thelemanngasse (Vereinsbethaus Gemilath Chesed, Anm. des Autors) in Wien sah, dass nämlich keine einzige Fensterscheibe an dem dort befindlichen jüdischen Bethause ganz ist, was wohl weniger der Gewalt der aus diesem Heiligtum dringenden Gebete als vielmehr gewissen äußeren Einwirkungen zuzuschreiben sein dürfte. Wenn im Monat Elul im Burgenlande der Schofar ertönt, dann sagen die Bauern, dass die Juden den Herbst einblasen, wenn in Monaten der Dürre alle Bittprozessionen nicht helfen wollen, dann kommen sie zu den Juden und fordern sie auf, um Regen zu beten, und in Mattersdorf ist von den zwei dort bestehenden Ortsfeuerwehren die jüdische auch bei den Nichtjuden als die bessere anerkannt.

Leopold Moses, Urlaubstage im Burgenland, 19. Dezember 1924

Jüdisches Viertel Eisenstadt, Haus in der Wertheimergasse, um 1920

Jüdisches Viertel Eisenstadt, Haus in der Wertheimergasse, um 1920



Aber schon sieben Jahre später, 1931, schlägt ein Autor, der sich Elchanan nennt, in der Jüdischen Presse ganz andere Töne an:

Eisenstadt. Ein Städtchen voller Merkwürdigkeiten und Paradoxa ‒ so könnte man vielleicht am besten die Landeshauptstadt am sonnigen, weinbestandenen Abhang des Leithagebirges charakterisieren… Das Groteskeste aber an diesem Städtchen der Paradoxa ist noch sein Judenstädtchen. …

Immerhin ist das Judenstädtchen von Eisenstadt wohl der einzige Ort in Mitteleuropa, dessen Schabbatruhe so konsequent durchgesetzt und auch straßenpolizeilich derart geschützt ist, dass nicht einmal ein Wagen die Möglichkeit hat, das holperige und spitze Pflaster der zwei Hauptgassen aus seiner beschaulichen Ruhe zu bringen. Schon diese unbedingte und vollständige Schabbatruhe, die auch im Osten Europas in größeren und frömmeren Judengemeinden kaum erreicht werden dürfte, macht Eisenstadt mit seiner von Schabbateingang bis Schabbatausgang geschlossenen Kette zu einer Sehenswürdigkeit ersten Ranges, und auch sonst könnte man sich diesen Ort mit der herrlichen Luft der zum Greifen nahen Wälder sehr wohl als gern gesuchte Sommerfrische für jüdische Großstädter vorstellen. Aber die Bewohner der jüdischen Gassen Eisenstadts wären zufrieden, wenn ihr Viertel weniger den Charakter eines Raritätenkabinetts hätte und nicht auch mitten in der Woche fast dieselbe beschauliche Ruhe in ihrem Bezirk herrschte, die nahezu ebenso wenig durch Wagengerassel gestört wird wie am Schabbat. Der Verkehr weicht der Judenstadt nicht mehr, wie es früher der Fall und von den Juden beabsichtigt war, bloß am Schabbat, sondern auch an den Wochentagen in weitem Bogen aus. In stiller Resignation stehen die wenigen Übriggebliebenen in der Judengasse vor ihren altertümlichen Gewölben und sehen zu, wie das, was für Eisenstadt den großen Weltverkehr bedeutet, wenn es auch noch so wenig ist, außen an ihrem Städtchen vorübergeht.

Wenn man sich für den Ausblick in die Zukunft noch ein wenig Optimismus bewahrt hat, wird man vielleicht sogar hoffen dürfen, dass infolge der Arbeit des neuen Raw gerade die Entwicklung Eisenstadts zur Hauptstadt auch dem jüdischen Eisenstadt doch auch ein wenig zugutekommen wird. Vorläufig geht zwar der große Verkehr an der Judenstadt vorüber und diese selbst schläft und seufzt. Aber wenn man es sich des Abends nicht verdrießen lässt, die steile Treppe neben der Synagoge zum Schiurzimmer[3] hinanzusteigen, in dem ein paar alte Männer über Talmudfolianten gebeugt sitzen, dann eröffnet sich einem gerade aus diesem, dem ernsten Studium der Tora geweihten Raum ein schöner Ausblick auf die vorüberführende Hauptverkehrsstraße mit ihren schönen neuen Gebäuden und weiter darüber hinaus in das weite Land. Vielleicht wird ernstes Streben nach Tora unserm Volke nicht nur hier zeigen, wie es nicht mehr seiner Ideale wegen aus dem freien Wettbewerb der Völker ausgeschaltet, sondern gerade durch diese Ideale den ihm gebührenden Anteil zugeteilt erhalten wird, und so wird es wohl auch der heiligen jüdischen Gemeinde Eisenstadt beschieden sein, wenn sie wieder den steilen Weg der Tora erklimmt, neue Auswege und Ausblicke zu gewinnen in eine schönere Zukunft.

Elchanan, in: Jüdische Presse 17, 21. 8. 1931

Straßentransparent in Hornstein (nahe Eisenstadt), 1938

Straßentransparent in Hornstein (nahe Eisenstadt), 1938



Diese schönere Zukunft sollte es nie geben. Denn wiederum sieben Jahre später, 1938 war es in den burgenländischen jüdischen Gemeinden, auch in Eisenstadt, zu einem sehr schnellen Aus gekommen, schneller und konsequenter als im übrigen Österreich. Ende Oktober 1938 meldet, wie wir wissen, die Israelitische Kultusgemeinde Wien, dass es im Burgenland keine Juden mehr gibt.

Die letzte jüdische Geburt in Eisenstadt vor 1938 war Gertrude Weiß am 5. August 1938, geboren im Spital der Barmherzigen Brüder, als Tochter vom Schuhmachermeister Hugo Weiß, 36 Jahre alt, und der Rosa Farkas, 38 Jahre alt. Siehe v.a. die erste Frau von Hugo Weiß, Josefine Weiß, gest. 1928 und begraben am jüngeren jüdischen Friedhof von Eisenstadt und ihren tragischen Tod.

Die letzte jüdische Hochzeit war zwei Monate vorher, am 13. Juni 1938 zwischen Hugo Soltesz und Charlotte Geiger. Ihre Schwester Ilona heiratete Dr. Alfons Barb, den späteren jüdischen Direktor des Landesmuseums Burgenland. Sein Bruder, Dr. Zoltan Soltesz, der 1934 im Gemeindewald von Kleinhöflein Selbstmord durch Vergiften verübte, ist sowie seine Schwester Helene am jüngeren jüdischen Friedhof von Eisenstadt begraben.

Der letzte, der 1938 gestorben ist, war Samuel Gellis, ein arbeitsloser Schuhmachergeselle. Er beging Suizid, er hat sich erhängt, am 11. Juni 1938 um Mitternacht, mit 54 Jahren. Seine Schwester und sein Schwager sind in der Schoa ermordet worden. Beide Eltern, beide Großeltern, beide Urgroßeltern und beide Ururgroßeltern (begraben sind sie alle auf dem älteren und jüngeren jüdischen Friedhof von Eisenstadt), also 5 Generationen lebten und arbeiteten 220 Jahre sicher und zufrieden in Eisenstadt ‒ bis 1938 [4].

Nach 1945 kamen wenige Juden zurück ins Burgenland, die meisten zogen bald wieder weg, hier blieben etwa ein Dutzend Juden, in Eisenstadt waren es zwei Familien, die die Jahrzehnte nach 45 hier lebten: die Familie Schiller und die Familie Trebitsch.

1972 wurde unser Österreichisches Jüdisches Museum als erstes jüdisches Museum in Österreich und als viertes in Europa nach 1945 gegründet. Im kommenden Jahr feiern wir unser 50jähriges Jubiläum.

Das Programm hat seit 1945 andere Vorzeichen: Schrieb, erklärte und „dolmetschte“ der eingangs erwähnte Dr. Bernhard Wachstein selbstverständlich und ausschließlich für jüdisches Publikum, sind unsere heutigen Adressaten vorwiegend Nichtjuden.

Das gilt nicht nur für uns als Museum, das gilt selbstverständlich, mutas mutandis, für alle zeitgeschichtlichen Initiativen, Gedenktafeln, Veranstaltungsinitiativen usw.

Das gilt für die tausenden hebräischen Grabinschriften auf den jüdischen Friedhöfen des Burgenlandes genauso wie für ‒ ich darf sie so bezeichnen ‒ Jahrhundertfunde wie den Genisagrabstein in Kobersdorf oder den Torawimpel des 1761 in Eisenstadt geborenen bedeutenden Rabbiners Akiba Eger.

Es ist viel gemacht worden im Burgenland, besonders viel wohl in Eisenstadt seit 1945. Und es muss noch viel gemacht werden, im Burgenland und hier in Eisenstadt in den nächsten 100 Jahren.

Wir können niemals die Leere, die das Fehlen jener Menschen, die unter uns über Jahrhunderte lebten, ausgelöst hat, füllen. Aber wir können und müssen, was immer wir tun, den Vertriebenen und Ermordeten ihre Namen, ihre Geschichte, ihre Geschichten, und damit ihnen ihre Würde zurückgeben.



[1] Harald Prickler, Beiträge zur Geschichte der burgenländischen Judensiedlungen, in: Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland, Heft 92, 1993, 68. [Zurück zum Text (1)]

[2] Wachstein B., Die Grabinschriften des Alten Judenfriedhofes in Eisenstadt, Eisenstädter Forschungen, hrsg. von Sándor Wolf, Band I, Wien 1922. Die Publikation datiert aus dem Jahr 1922, das Geleitwort von Sandor Wolf ist aber mit Jänner 1921 datiert! [Zurück zum Text (2)]

[3] „Schiur“, Hebräisch, bedeutet „Unterricht“. Das Schiurzimmer ist also jener Raum, in die Rabbiner ihren Schülern Unterricht gaben, siehe unseren Artikel „Meine Kindheit in der Judengasse von Eisenstadt„. [Zurück zum Text (3)]

[4] Zur Familie Gellis siehe besonders unseren Artikel „Rosch haSchana 5779„. [Zurück zum Text (4)]


Keine Kommentare zu 100 Jahre – und unerfüllte Hoffnungen

Tag des Friedhofs 2021

Gestern und heute ist der #TagDesFriedhofs. In Eisenstadt gibt es zwei jüdische Friedhöfe (in unmittelbarer Umgebung unseres jüdischen Museums) sowie ein Mausoleum. Beide Friedhöfe können besucht werden, den Schlüssel erhalten…

Gestern und heute ist der #TagDesFriedhofs.

In Eisenstadt gibt es zwei jüdische Friedhöfe (in unmittelbarer Umgebung unseres jüdischen Museums) sowie ein Mausoleum. Beide Friedhöfe können besucht werden, den Schlüssel erhalten Sie sowohl in unserem Museum als auch beim Portier des Krankenhauses (gleich neben den Friedhöfen). Das Wolf-Mausoleum befindet sich einige Meter oberhalb des Gymnasiums Wolfgarten und ist mit dem Auto in wenigen Minuten, zu Fuß in etwa 20 Minuten (vom Museum aus) erreichbar.

Der ältere jüdische Friedhof darf wohl als einer der bedeutendsten jüdischen Friedhöfe in Europa bezeichnet werden. Über 1.100 Grabsteine, der älteste aus dem Jahr 1679, ausschließlich hebräische Grabinschriften. Auf dem Friedhof befinden sich u.a. die Gräber von MaHaRaM A“SCH, Rabbi Meir Eisenstadt, gest. 1744, dem ersten offiziellen Rabbiner der jüdischen Gemeinde Eisenstadt, sowie die Gräber der Eltern des berühmten Rabbi Akiba Eger (der heute, am 13. Tischre, seinen Jahrzeittag hat!): Mose Güns-Schlesinger und Gütel, Tochter von Akiba Eger dem Älteren… Schon 1922 wurde dieser Friedhof vollständig dokumentiert, seit 2015 ist jeder Grabstein mit Foto und Inschrift auch online, jeder Grabstein hat einen QR-Code mit Namen und Sterbedatum, wodurch alle BesucherInnen die Möglichkeit haben, ein bestimmtes Grab auch tatsächlich zu finden.

Nur wenige Meter entfernt liegt der jüngere jüdische Friedhof, der von 1875 an belegt wurde. Die etwa 300 Grabsteine haben ebenfalls fast ausschließlich hebräische Grabinschriften. 1992 wurde der Friedhof geschändet, der Täter im Herbst 1995 gefasst. Auch dieser Friedhof wurde von uns schon 1995 dokumentiert, seit 2017 ist jeder Grabstein mit Foto, Grabinschrift, Übersetzung, Anmerkungen und biografischen Ergänzungen online und vor Ort ebenfalls mit QR-Code versehen.

Das Mausoleum der Familie Wolf am Fuß des Leithagebirges im ehemaligen Obst-und Gemüsegarten der Familie Wolf beherbergt eine Gedenktafel sowie die Urnen von 12 Nachkommen von Leopold Wolf und seiner Frau Ottilie Laschober. Ottilie war katholisch, alle Kinder erhielten die Religion ihres Vaters, traten aber im Laufe ihres Lebens aus dem Judentum aus. Die Kinder, Schwiegerkinder und Enkeln von Leopold und Ottilie Wolf wurden aus der ganzen Welt zu ihrer Mutter nach Eisenstadt gebracht (bis 2001!).


Danke an die Kolleginnen/Kollegen vom Jüdischen Museum Frankfurt / Museum Judengasse https://www.facebook.com/juedischesmuseumffm fürs Erinnern an den #TagdesFriedhofs.


Keine Kommentare zu Tag des Friedhofs 2021

Rosch haSchana 5782

Morgen ist Erev Rosch haSchana. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern unserer Koscheren Melange ein glückliches und gesundes neues Jahr 5782. שנה טובה ומתוקה, כתיבה וחתימה טובה! Unsere Wünsche sind…

Morgen ist Erev Rosch haSchana. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern unserer Koscheren Melange ein glückliches und gesundes neues Jahr 5782.

שנה טובה ומתוקה, כתיבה וחתימה טובה!

Unsere Wünsche sind natürlich ganz ernst gemeint, das nostalgische Motiv dagegen weniger. ;-)

Postkarte mit Kaiser Franz Josef I. und hebräischem sowie ungarischem Text

Postkarte mit Kaiser Franz Josef I. und hebräischem sowie ungarischem Text



Zu viele Fehler im Text der Postkarte machen sie ungeeignet sowohl zum Hebräisch- als auch zum Ungarischlernen. ;-) Meines Erachtens sind die Fehler v.a. der Tatsache geschuldet, dass es sich bei der vorliegenden Karte um eine handschriftlich erstellte Kopie handelt (?).
Ein sehr grober „Übersetzungsversuch“ des hebräischen Textes:

Der DU den Königen Sieg gibst und Herrschaft den Fürsten, Königreiche der Herrschaft auf alle Ewigkeit. Der erlöst David, seinen Knecht, vom verderblichen Schwert (s. Psalm 144,10). Der einen Weg gibt im Meer und einen Pfad in mächtigen Wassern (Jesaja 43,16).
ER möge ihn segnen, behüten, bewachen, ihm helfen, ihn erheben, ihn groß machen und ihm Ansehen verschaffen (s. 1 Chronik 143,2), unsern Herrn, König Franz Joseph I., sein Name möge verherrlicht werden.

Unter dem ungarischen Text:

Ihr möget in ein gutes Jahr eingeschrieben werden.

Der ungarische Text ist noch fehlerhafter als der hebräische und will ausdrücken, dass Friedenswünsche für das kommende neue Jahr gesendet werden.


Besten Dank an Herrn Meir Deutsch, Israel, für die Postkarte!


4 Kommentare zu Rosch haSchana 5782

Finde:

Mehr Ergebnisse...

Generic selectors
Nur exakte Ergebnisse
Suche im Titel
Suche im Inhalt
Post Type Selectors
rl_gallery
Filter nach Kategorien
Abbazia / Opatija
Cheder
Ebenfurth
Fiume / Rijeka
Friedhof Eisenstadt (älterer)
Friedhof Eisenstadt (jüngerer)
Friedhof Kobersdorf
Friedhof Lackenbach
Friedhof Mattersburg
Friedhof Triest
Friedhof Währing
Genealogie
Karmacs
Kunst und Kultur
Leben und Glaube
Mitbringsel / Souvenirs
Podcasts
Salischtschyky / Zalishchyky
nach oben