Koschere Melange

Das Blog des Österreichischen Jüdischen Museums - ISSN 2410-6380

Meine Kindheit in der Judengasse in Eisenstadt

Diesen Artikel schrieb Professor Meir Ayali, seligen Andenkens, im Jahr 1988 und wurde von mir aus dem Hebräischen übersetzt. Meir Eugen Ayali wurde am 10. Juli 1913 als Sohn von…

Diesen Artikel schrieb Professor Meir Ayali, seligen Andenkens, im Jahr 1988 und wurde von mir aus dem Hebräischen übersetzt. Meir Eugen Ayali wurde am 10. Juli 1913 als Sohn von Jehuda Hirschler und Esther Kohn im Wertheimerhaus in Eisenstadt, in dem sich heute das jüdische Museum befindet, geboren. Er starb am 01. Mai 2001 in Israel.
Ein berührender Artikel über seine Kindheit in einer ausgelöschten Welt.

Schabbatkette jüdisches Viertel Eisenstadt

Insgesamt standen 31 Häuser in der Judengasse, die sich wie ein umgekehrtes Dalet (ד = vierter Buchstabe im hebräischen Alphabet) erstreckte: beginnend bei den beiden Säulen mit der Kette im Osten bis zu den Häusern im Westen, die an das Spital der ›Barmherzigen Brüder‹ grenzten und von hier verlief sie in Richtung Norden bis zum Tor des alten Friedhofs. An der Südwestecke, beim Ausgang auf die ›Straße‹, befand sich ein Gittertor, das, ähnlich den dicken und schweren Eisenketten im Osten, auch an den Abenden vor Schabbattagen und Festen bis zum Ausgang des Schabbats bzw. des Festes für jeglichen Fahrzeugverkehr geschlossen wurde. Wie in früheren Jahren war in den Tagen meiner Kindheit und Jugend die autonome Gemeindestruktur der Gasse mit dem Namen Unterberg-Eisenstadt noch beibehalten und wir hatten einen eigenen Bürgermeister. Sogar als Kinder waren wir sehr stolz auf dieses Recht, das ein zusätzliches Flair auf den besonderen Charakter des Judenviertels und auf die Lebensatmosphäre in ihm ausübte.

31 Häuser: auf dem Tor eines jeden war eine kleine Tafel aus Holz oder Blech angebracht, auf die der Schames (Synagogendiener) zweimal am Tag dreimal schlug ‒ ta, ta, ta ‒ um bekannt zu geben, dass die Zeit des Morgen-, Mittag- oder Abendgebetes gekommen ist. Mit großer Pünktlichkeit, fünf Minuten vor dem Beginn des Gebetes in der Synagoge, schlug Herr Feldmann mit einem dicken Holzhammer auf das Tor Nr. 1, das Haus des Gabriel, das neben der Kette stand, und beendete binnen fünf Minuten die Runde beim Haus Nr. 31, das gegenüber (vom Haus Nr. 1), ebenfalls neben der Kette, war. In diesem Haus, Nr. 31, das heute ›Wertheimerhaus‹ genannt wird (mit Recht, denn es wurde von Rabbi Samson Wertheimer erbaut), und das im Besitz der Familie Wolf war, wohnten wir. Das Tor des Hauses ging auf die Judengasse, unsere Fenster schauten nach Osten; von ihnen blickten wir auf die Türme des Schlosses Esterházy, zum Hofgarten und auch auf die Abhänge des nahe gelegenen Waldes. Noch klingt in meinen Ohren das Zwitschern der Lerchen, das vom Park und vom Wald her den Morgen der Sommertage durchbrach, und ich erinnere mich an die sorglosen und glücklichen Tage meiner Kindheit in diesen Jahren, als auch die Erwachsenen nicht ahnen konnten, welche Vipern in Menschengestalt in viel späteren Jahren von allen Seiten hervorbrechen würden. Die Häuser der Gasse waren klein, die meisten von ihnen einstöckig, einfach und bescheiden; aber einige waren in ihrem Stil sehr pittoresk, und die Maler malten besonders gern das letzte Haus im oberen Teil der ›Oberen Gasse‹, links vom Tor des Friedhofes (an seiner Stelle befindet sich heute der Eingang zum Krankenhaus). Auf den Türstürzen einiger Häuser waren Krugformen ziseliert, um zu kennzeichnen, dass ihre Besitzer Leviten waren, die beim Gottesdienst die Handflächen der Priester wuschen, bevor diese auf das Podium stiegen, um das Volk zu segnen. Es scheint mir, dass Reliefs wie diese noch auf den Toren von zwei Häusern erhalten sind.

Neben dem Wertheimerhaus stand das Strohhaus, in dem im Jahr 1761 Rabbi Akiba Eger geboren wurde, der durch seine Lehre die Diaspora Israels erleuchtete, und der auch, als er schon Rabbiner von Posen war, seine Responsen ›Akiba, Sohn des Rabbi Mose Güns aus Eisenstadt‹ unterzeichnet hatte. Die Grabsteine von Rabbi Mose Güns und seinen Familienangehörigen sind noch auf dem alten Friedhof erhalten, nicht weit vom Grab des berühmtesten der Rabbiner Eisenstadts, des MaHaRaM Asch, (Rabbi Meir Eisenstadt), dem Verfasser der Bücher ›Panim me’irot‹ (›Leuchtendes Antlitz‹). Wenn nicht neue Vandalen kommen, werden diese Gräber noch viele Generationen erhalten bleiben.

Ehemalige Privatsynagoge Samson Wertheimers, heute im Österreichischen Jüdischen Museum

Ehemalige Privatsynagoge Samson Wertheimers, heute im Österreichischen Jüdischen Museum



Gegenüber diesem Haus stand die große Synagoge (zu unterscheiden von der ›Kleinen Schul‹, die Samson Wertheimer in seinem Haus gebaut hat; in ihr betete man zu meiner Zeit nur an hohen Feiertagen und an besonderen Festen. Sie wurde jetzt von neuem, dank der Anstrengungen von Prof. Kurt Schubert (04. März 1923 – 04. Februar 2007), wieder hergestellt). Mit der großen Synagoge waren das ›Gemeinde-Haus‹, die Rabbinerwohnung, das Badehaus und die Mikwe sowie das ›Schiurzimmer‹, in dem die großen Rabbiner von Eisenstadt ihren Schülern Unterricht gaben, verbunden. Hier errichtete der Rabbiner Asriel Hildesheimer in der Mitte des vorigen Jahrhunderts seine berühmte Jeschiva (Rabbinatsschule), ehe er nach Berlin übersiedelte, wo er das bekannte Rabbinerseminar gründete. In meiner Kindheit kannte ich noch einen seiner letzten Schüler in Eisenstadt, Herrn Asriel Wolf, einen alten Junggesellen, den mein gottseliger Vater als einen wahren Toragelehrten überaus schätzte; in ihm vereinten sich Tora und Lebensweisheit. Zu ihm schickte mich mein Vater manchmal am Schabbat Vormittag ›zum Verhör‹.

Hier, in der Synagoge und ihrer Umgebung, war das Zentrum des Gemeindelebens. Hier versammelten sich die Gemeindemitglieder an Wochen-, Schabbat- und Feiertagen zum Gebet. An den hohen Feiertagen kamen sie und ihre Familienangehörigen, auch jene, die in anderen Teilen der Stadt wohnten, sowie Juden aus den umliegenden Dörfern. Als Kinder fühlten wir nur die Atmosphäre der Heiligkeit, die sich während dieser Zusammenkünfte ausbreitete; wir wussten nur wenig von den Sorgen, die die Herzen unserer Eltern und der übrigen Betenden erfüllten, ‒ Unterhalts-, Erziehungs- und Gesundheitssorgen. Hier kamen die meisten der Gemeindemitglieder zusammen: Händler, Handwerker, Beamte und Lehrer, Weinkellerarbeiter, Ärzte und Rechtsanwälte. Sobald sie in ihren Tallit (Gebetsmantel) gehüllt oder mit dem weißen ›Kittl‹ an den hohen Feiertagen bekleidet waren, konnte man an ihnen keinen Standesunterschied erkennen.

Die Feste verbreiteten eine besondere Atmosphäre in der Gasse. Ernst und mit Ehrfurcht im Herzen kamen die Leute zu Neujahr und am Versöhnungstag in die Synagoge, so wie es sich an Tagen gebührt, an denen der Mensch gefordert ist, sein Gewissen zu erforschen und er seinem Los im kommenden Jahr entgegenbangt. Aber schon in der Woche vor diesen Festen, an den kühlen Morgen des Monats September, vor dem Aufgehen der Morgenröte, gingen wir schweigend in die beleuchtete Synagoge und sagten die ›Slichot‹ (Bußgebete) als Vorbereitung auf die hohen Feiertage. Uns Kindern schien es, als wäre die ganze Welt jetzt in tiefen Ernst gehüllt. Aber gleich nach diesen Feiertagen kamen die Tage des Laubhüttenfestes und in allen Höfen wurden Laubhütten mit dem ›Skakh‹ (Laub, um die Laubhütte zu bedecken) aufgestellt; die Bedeckung bestand aus grünen, wohlduftenden Zweigen. Die Dekorationen an den Wänden gestalteten wir Kinder: vielfärbige Sterne, angefertigt aus glänzendem Buntpapier. Wir lernten diese Kunst in den Handarbeitsstunden in der jüdischen Volksschule, die hinter dem Hof des ›Strohhauses‹ stand. Die Herbstluft war bei diesem Fest schon getränkt vom Duft der Weintrauben und des Mostes, der aus allen Weinbergen und Weinkellern rundum aufstieg. Der letzte Tag des Sukkotfestes ‒ es ist der Tag von ›Simchat tora‹ (Freudenfest der Tora), an dem das Lesen der Toraabschnitte endet und von Neuem beginnt ‒ entschädigte uns für den tiefen Ernst an den Festen, die dem Sukkotfest vorausgegangen waren: Die Stimmung war fröhlich! Alle Kinder, auch die kleinen, die noch nicht das Alter der Gebote (der religiösen Pflichten, bei Buben mit 13 Jahren) erreicht hatten, wurden zur Tora aufgerufen, und, um die Freude zu vergrößern, wurden aus verschiedenen Fenstern Äpfel und Nüsse zu den Kindern bei ihrem Auszug aus der Synagoge geworfen.

Obstauswerfen zu Simchat Tora, Bild: Burgenländisches Landesmuseum

Obstauswerfen zu Simchat Tora, Bild: Burgenländisches Landesmuseum



Ich kenne den Grund für diesen Brauch, den ich danach in keiner anderen Gemeinde gesehen habe, nicht. Vielleicht fielen hier zwei Motive zusammen: das eine, dass die Symbole dieser Früchte in den Midraschim (religiöse Auslegungsschriften) mit Israel verglichen werden, und das zweite ‒ ein Gedenken an das ›Erntefest; der Beiname für das Sukkotfest. Auf jeden Fall erfreuten uns alle diese Tage sehr, sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen.

Chanukkaleuchter, Leihgabe Burgenländisches Landesmuseum

Danach kamen die kalten und verschneiten Tage des Winters und mittendrin das Chanukkafest. Mit dem Dunkelwerden wurden in allen Häusern auf den Fenstersimsen die winzigen Chanukkakerzen auf dem kleinen Leuchter entzündet, der das ganze Jahr im Kasten oder auf dem Regal darauf warte, seine Aufgabe während der acht Chanukkatage zu erfüllen. Danach setzten wir uns ‒ alle Familienangehörigen und manchmal mit eingeladenen Freunden ‒ zu Tisch zu den typischen Chanukkaspielen, in deren Mittelpunkt das Spiel mit dem Kreisel, das ›Trendel‹ (ursprünglich ›Drehdel‹) genannt wurde, stand. Manchmal zogen sich die Erwachsenen auf einen anderen Tisch zurück und spielten ein harmloses Kartenspiel; die Wette ging im Allgemeinen ‒ wie auch beim Spiel mit dem Kreisel ‒ um Nüsse! Das muss man wissen, denn in der Gemeinde Eisenstadt war das Kartenspiel das ganze Jahr hindurch ›verpönt‹ und ein schwerwiegender Bann wurde bereits in den Tagen des MaHaRaM Asch zu Beginn des 18. Jahrhunderts darauf gelegt. Er legte damals viele Verordnungen zur Verbesserung der Moral fest, wie etwa das Verbot für Frauen, Kleider in der neuen Mode des ›Kreolin‹ zu tragen. Das strengste unter allen Verboten war der Bann auf das Kartenspiel und auch in meiner Jugend achtete man im Judenviertel nicht weniger darauf als auf die Kaschrutgesetze (Gebote der rituellen Tauglichkeit, Speisegesetze). Wer aber dem Spieltrieb nachgab, fand für sich einen Ausweg und ging insgeheim mit seinen Freunden in das benachbarte Dorf Kleinhöflein, aus der Annahme heraus, dass der Bann dort nicht mehr gelte. Aber in den Verordnungen des MaHaRaM Asch war das Spiel in den Nächten des Chanukkafestes erlaubt. Man nützte diese Erlaubnis, wenn auch in sehr bescheidener Form! Weil es keinen Bann gibt, der, wenn er aufgehoben war, automatisch seine Gültigkeit wiedererlangt, sondern nur, wenn er von Neuem erklärt wird, verlängerte der Rabbiner (in Übereinstimmung mit dem Gemeindevorsteher) die Zeitdauer der Erlaubnis um einige Tage. Und ich erinnere mich, wie in den Tagen meiner Kindheit der Rabbiner oder der Vorbeter auf die Bima stieg und neben der Torarolle verkündete:

Das Spielen ist asur (verboten) ke-vime kedem (wie früher)!

Zitat Meir Ayali

Und wieder erlangte das puritanische Verbot seine Gültigkeit und der Ernst senkte sich auf die Judengasse bis zum Purimfest im Monat Adar (März/April). An diesem Fest feierten wir die Niederlage des Haman, dem Urvater aller Antisemiten auf der Welt, und niemand konnte damals ahnen, welcher diabolische, um vieles gefährlichere Haman schon darauf wartete, das jüdische Volk zu vernichten und es von der Wurzel her auszurotten; und die Vernichtungswelle sollte ausgerechnet von hier, den ›Siebengemeinden‹ im Burgenland, ihren Anfang nehmen. Fröhlich und freudig drängten wir uns am Purimfest mit den Masken auf unserem Gesicht und wir halfen auch unseren Eltern beim Verteilen der ›Purimgeschenke‹; dieser Brauch sollte die Freundschaft unter den Nachbarn vermehren, wie es uns im Buch Ester befohlen wurde. Mutter legte auf den Teller ein paar Früchte und ein paar Süßigkeiten, herrliche ›Linzerkipferl‹, gab alles in eine farbige Hülle und sagte:

Jetzt gehst du zu Berger. Sagst ›Küss die Hand und guten Purim. Mama schickt Schlachmones‹ und genauso in andere Häuser, die selbstverständlich dieses wichtige Gebot ebenfalls einhielten.

Zitat Meir Ayali

Koscher-Stempel für Pesach

Der Winter zog vorbei, der Schnee verschwand und das Frühlingsfest kam: es ist das Pesachfest, das Fest des Auszugs aus Ägypten, von der Sklaverei in die Freiheit, durchdrungen von Sehnsucht nach baldiger Erlösung und dem Glauben an das Kommen des Propheten Elias, dem Verkünder des Messias, bald in unseren Tagen. Jetzt kam auch die Zeit der großen Reinigung. Es genügte nicht das wöchentliche Scheuern des Fußbodens, das Reinigen und das gewöhnliche Waschen. Jetzt drehte man das ganze Haus um, reinigte, wusch und scheuerte bis auf die Grundfeste und die Hauptsache war, dass sich zum Pesachfest auch nicht ein Körnchen von Gesäuertem im Hause finde! Manchmal bekam man auch ein neues Gewand anlässlich des Festes. Aus der ganzen Gasse stieg der Lärm des Waschens und Scheuerns auf und der Geruch der Sauberkeit breitete sich in allen Häusern aus. Es kam die Sedernacht: nach dem Gebet in der Synagoge setzten sich die Familien zusammen, um das Fest mit dem Lesen der ›Haggada der Pesachnacht‹, der Geschichte des Auszugs aus Ägypten, zu feiern, wie es Brauch unserer Väter durch viele Jahrhunderte hindurch war. Alle Familienangehörigen sangen bis in die späten Nachtstunden die Lieder des Pesachfestes, des Festes unserer Freiheit; eines der Kinder öffnete die Tür weit als Zeichen des Gefühls der Freiheit und in Erwartung auf die Erscheinung des Propheten Elias, dessen Kommen sich verzögerte. Das Trinken der vier Becher in dieser Nacht, die die vier Ausdrücke der Erlösung symbolisierten, die beim Auszug aus Ägypten gesprochen wurden:

ich führte euch (hinaus aus Ägypten)« … »ich rettete euch« … »ich erlöste euch« … »ich nahm euch

2. Buch Mose 6,6-7

Und sogar das Trinken kleiner Mengen hatte seine Wirkung auf unsere Köpfe, die wir um Mitternacht bei einem kurzen Spaziergang bis zum Schlossplatz milderten. Aber obwohl wir im Zentrum der österreichischen Weinkultur wohnten, sah ich niemals einen Betrunkenen durch die Judengasse gehen, nicht einmal beim Purimfest.

So wurden in der Judengasse und in den Familien die übrigen Feste gefeiert, die in unseren jungen Herzen viele tiefe Erlebnisse auslösten. Natürlich herrscht in diesen Schilderungen eine übertriebene Idealisierung, die von Erinnerungen einer fernen Kindheit herrührt. Aber auch damals blieben vor uns die Gefahren nicht verborgen, die manchmal über den Köpfen unserer Eltern schwebten. Zur Zeit meiner Kindheit lebten unter uns noch alte Leute, die sich an die Blutbeschuldigung von ›Tisza Eszlar‹ erinnerten und in den Schaukästen der Nazis, die allenthalben aufzutauchen begannen, wurden giftige Andeutungen ‒ genommen aus dem ›Stürmer‹ ‒ gemacht. Da wir Kinder eine moralisch-puritanische Erziehung genossen hatten und es gemäß den strengen religiösen Gesetzen bezüglich der Kaschrut verboten war, Fleisch zu essen, bevor das Blut durch Einsalzen entfernt worden war, konnten wir nicht glauben, dass jemand von unseren Nachbarn, vor denen wir nichts zu verbergen hatten und mit denen wir in Partnerschaft und Frieden lebten und für die Entwicklung der Stadt arbeiteten, imstande war, diesen ›Unsinn‹ zu glauben.

Nicht in allen Bereichen der Religion ging das Leben in der Gemeinde in den Tagen meiner Jugend so vor sich wie in früheren Jahren. In der Judengasse, die am Schabbat an ihren beiden Ausgängen für den Fahrzeugverkehr abgesperrt wurde ‒ mit einer Eisenkette auf der einen, mit einem Gittertor auf der anderen Seite ‒ waren die Geschäfte selbstverständlich geschlossen. Aber im Zentrum der Stadt, in der ›Hauptgasse‹, waren schon einige Geschäfte von Juden am Schabbat geöffnet, aus der Befürchtung heraus, dass ihr Einkommen zu arg beeinträchtigt werde. Auch in ihren religiösen Einrichtungen war die Gemeinde Eisenstadt schon nicht mehr das, was sie in früheren Jahrhunderten war, als das Licht ihrer Lehre weithin erstrahlte. Die Sorge des gottseligen Vaters darüber war an seinen Seufzern ersichtlich, die manchmal aus seinem Mund schlüpften.

Aber die allgemeine Atmosphäre in der Gasse wurde in meiner Kindheit noch bewahrt. So funktionierten die Einrichtungen der Wohltätigkeit, der Unterstützung und der gegenseitigen Hilfe perfekt. In der Gasse gab es schon nicht mehr viele Reiche, außer der Familie Wolf, die hohe Abgaben an die Gemeindekasse und die Einrichtungen der Gemeinde leistete; doch auch an ihr war die Wirtschaftskrise erkennbar. Aber alle Gemeindemitglieder trugen das Joch dieser Einrichtungen und beteiligten sich überall, wo es nötig war, persönlich an der Hilfeleistung. Die ›Chevra kadischa‹ (›Heiliger Wohltätigkeitsverein‹), die offensichtlich dazu gegründet wurde, sich um die Toten und deren Begräbnis zu kümmern, ließ auch den Lebenden durch Beistand in der Stunde einer Krankheit oder einer anderen Bedrängnis Hilfe angedeihen.

In den Tagen meiner Kindheit gab es noch für alle Fälle (leere) Krankenzimmer in der ›Oberen Gasse‹. Aber es wurde mir erzählt, dass viele Jahre, bevor ich geboren wurde, die Cholera in Eisenstadt wütete und viele Kranke in diese Krankenzimmer gebracht wurden. Ich weiß nicht, wie weit die Geschichte authentisch war, die man im Zusammenhang damit über Herrn Adolf Gabriel, den Vorsteher der ›Chevra kadischa‹, erzählte. Ich kannte ihn in meiner Jugend, wie er wegen seiner schrecklichen Kurzsichtigkeit durch die Gasse taumelte. Auch als Greis noch war er ‒ natürlich ehrenamtlich ‒ seinen Aufgaben in der ›Chevra kadischa‹ treu ergeben. Über ihn erzählte man, dass er in den Tagen der Cholera nicht von den Betten der Kranken in dem kleinen ›Spital‹ wich, sie pflegte, ihnen zu essen gab und sich selbst darum kümmerte, dass jene, die verstarben, begraben wurden. Es war schwer zu glauben, welch körperliche, seelische und moralische Kräfte in diesem kleinen, mageren und bescheidenen Mann ruhten. Manchmal lachten wir über seine Kalkulation, als wir in sein Geschäft kamen, das fast leer war von Waren und Kunden, und ihn in der ›Neuen Freien Presse‹ lesen sahen, die wegen seiner Kurzsichtigkeit wirklich auf seinen Brillen lag, und die Zigarette in seinem Mund ein Loch in die Zeitung brannte. Über die Einrichtungen der Wohltätigkeit und der gegenseitigen Hilfe, so wie sie noch in den Tagen meiner Jugend aufrecht waren, wäre es wünschenswert, mehr Einzelheiten zu erzählen, die Zeugnis ablegen über ihren besonderen Charakter und über den Grundsatz der ›Mitzwa‹ (religiöse Pflicht; Gebot; gute Tat; Anmerkung des Übersetzers), auf den hin wir erzogen wurden. Das entscheidende Element der Wohltätigkeit war, dass sie in einer Form ausgeübt wird, die den Bedürftigen nicht beschämt. Es scheint mir, dass noch über der Wohltätigkeitskasse beim Eingang in die Synagoge von Rabbi Samson Wertheimer die Anfangsbuchstaben Mem, Bet, Jod, Alef eingraviert sind, (ein hebräisches Akrostychon; Anmerkung des Übersetzers) von Sprichwörter, Kapitel 21, Vers 14:

Ein Geschenk im Geheimen verdrängt den Zorn Gottes

Typisch dafür war die Wohltätigkeitskasse, die die Leute der ›Chevra kadischa‹ auf den Tisch im Haus von Trauernden stellten. Viele Münzen lagen schon darin, wenn sie unverschlossen zu den Trauernden gebracht wurde. Und selbstverständlich warf jeder, der kam, um sie in den sieben Tagen der Trauer zu trösten, ‒ durch einen Schlitz an der Oberseite ‒ heimlich etwas von seinem Geld in die Kasse ein; jeder so, wie er dazu imstande war. Die Absicht war, dass die Familie der Trauernden, die in den sieben Tagen ihrer Trauer verhindert war, ihrer Arbeit nachzugehen, am Abend ohne jede Überprüfung die ganze Summe, die für ihre Lebenshaltung notwendig war, aus der Kasse entnehmen konnte. Niemals überprüften die Vorsteher der ›Chevra kadischa‹ den Inhalt der Kasse und ich hätte mich nicht gewundert, wenn man in den Zwanziger Jahren am Boden der Kasse Münzen aus den Tagen des habsburgischen Kaiserreiches gefunden hätte.

Judengasse Eisenstadt, ca. 1920 (obere Gasse, heute Wertheimergasse)

Judengasse Eisenstadt, ca. 1920 (obere Gasse, heute Wertheimergasse)



Ein Ereignis, dessen Sinn mir erst viele Jahre danach bekannt wurde, grub sich besonders in meinem Gedächtnis ein. An einem Abend besuchte uns Herr N., ein wohlhabender alter Mann, der ehrenvoll von seinen Ersparnissen lebte. Nie gehörte er zu dem engeren Freundeskreis meines Vaters und nie hatte er unser Haus besucht. Er bat, mit Vater ›unter vier Augen zu sprechen‹. Viele Jahre kannten wir nicht die Bedeutung dieser Geheimnistuerei. Erst Jahre, nachdem Herr N. kinderlos gestorben war, deckte mir Vater sein Geheimnis auf: als die Bank, auf der seine Ersparnisse lagen, Konkurs machte, blieb Herr N. in großer Armut zurück. Er wusste nicht, wovon er im kommenden Monat leben sollte und er war aus Schamgefühl nicht dazu imstande, sich an die Wohltätigkeitskasse zu wenden. Mit Hilfe eines geheimen Wohltätigkeitsfonds der Familie Wolf, für den Vater verantwortlich zeichnete, erreichte Vater eine festgesetzte monatliche Rente für Herrn N. bis zu seinem Lebensende, ohne dass jemand in der Gemeinde eine Veränderung in seiner sozialen Stellung wahrnehmen konnte.

Die Teilnahme an den Wohltätigkeitsfonds befreite niemanden vom persönlichen Handeln. Die Vorsteher der ›Chevra kadischa‹ und andere erfüllten selbstverständlich freiwillig ihre Aufgaben, die manchmal mit großer Mühe und erheblichem Zeitaufwand verbunden waren. Das Verrichten einer Mitzwe war mehr Verdienst als eine ernste Pflicht. Als ich ungefähr 15 Jahre alt war, trug mich mein gottseliger Vater als Neuling in der ›Chevra kadischa‹ ein. Er war verpflichtet, einige hundert Schilling Einschreibgebühr zu zahlen, und nachdem die Vorsteher der Chevra meine Aufnahme bestätigt hatten, wurde ich am Schabbat zur Tora und zum Lesen der Haftara (Text aus den Prophetenbüchern; Anmerkung des Übersetzers) aufgerufen. Was waren meine Rechte und Pflichten von nun an? Es waren nicht viele Wochen vergangen, als ich eine Nachricht empfing: der greise Herr Moritz Machlup ist sehr krank und da auch seine Tochter alt ist, kann sie ihn nicht pflegen. Ich musste die ganze kommende Nacht zur Unterstützung neben seinem Bett sitzen und ihm in allem helfen, wo er bedürftig war. Herr Machlup war früher ein Antiquitätenhändler, aber die Jahre der Wirtschaftskrise ließen auch ihn verarmen. Es lag in der Möglichkeit der ›Chevra kadischa‹, eine Frau anzustellen, die ihn pflegen würde, aber wo ist hier die persönliche Erfüllung der Mitzwa (›der guten Tat‹)? Nichts halfen die Proteste der gottseligen Mutter, dass man dem ›Kind‹ eine schwere Aufgabe wie diese auferlegte; ‒ meiner Reife und der Verantwortung, die mir auferlegt wurde, bewusst, ging ich zur armen Wohnung des Alten und pflegte ihn ein oder zwei Nächte.

Eines Morgens, als wir das Schlagen des Holzhammers auf das Tor des Hauses hörten, das zum Morgengebet rief, wurden wir darauf aufmerksam, dass anstelle von drei Schlägen ‒ ta, ta, ta ‒ nur zwei gegeben wurden.

Wie es scheint, ist Herr Machlup diese Nacht gestorben

Zitat Meir Ayali

sagte Vater, denn dies war das Zeichen, dass ein Beter von nun an in der Synagoge fehlen wird.

Noch ein Bild aus den Tagen meiner frühen Kindheit steigt in meinem Gedächtnis auf. Ich war noch keine sechs Jahre, als ich wegen der Krankheit meiner Mutter den ganzen Winter bei Großvater und Großmutter in Lackenbach verbrachte. Sie hatten ein Lebensmittelgeschäft nahe der Wohnung, aber Großvater war sehr beschäftigt mit den Sorgen der Gemeinde, in der er viele Jahre als Oberhaupt diente. Es schneite stark und ich kniete im gemütlichen Zimmer auf der zum Fenster gelehnten Couch und blickte auf die weiß bedeckte Straße und auf die in ihre Mäntel eingehüllten Gestalten, die auf der Gasse vorübergingen. Da zog ein mit Holz beladener Wagen vorüber und neben dem Kutscher saß Großvater; eine Wollhaube bedeckte seinen Kopf und sein Gesicht. Sooft der Wagen stehen blieb, lud Großvater zusammen mit dem Kutscher neben verschiedenen Häusern gehackte Holzstücke vom Wagen. Großvater übergab die Leitung des Geschäfts für einige Stunden der Großmutter und selbst teilte er Holz an Familien aus, die sich ohne diese Hilfe in dem strengen Winter kein gewärmtes Zimmer hätten leisten können.

Judengasse Eisenstadt, Obere Gasse, heute Wertheimergasse

Judengasse Eisenstadt, Obere Gasse, heute Wertheimergasse



Hätte ich über alle Bräuche in der Judengasse und über die verschiedenen Charaktere in der Gemeinde erzählt ‒ Menschen, die durch ihre Taten hervorragten und einfache Leute, die keine große Rolle spielten ‒ hätte ich noch viele Blätter Papier füllen müssen. Sie alle verschwanden plötzlich und wurden durch eine verbrecherische Hand ausgerottet. Ich könnte mich trösten, wüsste ich, dass alle jene sich hätten aufmachen und ihr persönliches Hab und Gut, ihre Bücher und ihre Bräuche mit sich nehmen können und erhobenen Hauptes Zuflucht gefunden hätten. Aber so war nicht das Los der meisten von ihnen. Vor den Augen ihrer Nachbarn, mit denen sie und ihre Väter durch hunderte von Jahren Straße an Straße gewohnt hatten, wurden sie misshandelt, gedemütigt und vertrieben. Die meisten von ihnen wurden am Weg und in den Vernichtungslagern getötet; es gab auch solche, die Selbstmord begingen. Mit schmerzendem Herzen erinnere ich mich an den verdienstvollen Arzt Dr. Pap, der mit dem Titel ›Medizinalrat‹ und danach mit dem Titel ›Sanitätsrat‹ wegen seiner großen Verdienste für das Gesundheitswesen der Stadt ausgezeichnet wurde. Wer kannte nicht die magere Gestalt mit dem asketischen Gesicht und der glänzenden Glatze, die von Haus zu Haus lief, um Heilung zu bringen ‒ auch ohne jegliche Bezahlung. Niemand erhob sich, um zu protestieren, als er geschlagen und gezwungen wurde, eine mit Steinen voll beladene Schubkarre ohne jedes Ziel durch die Gassen der Stadt zu führen und er an jeder Ecke gedemütigt wurde. Mit Schwierigkeit entkam er nach Italien, wo er Selbstmord beging. Und wer von uns erinnert sich nicht an Sándor Wolf: bis heute existiert niemand, der Eisenstadt mehr liebte als er, der mit seinem Geld und seinen Händen seine Vorgeschichte erforschte und seine Vergangenheit von den Tagen der Römer an aufdeckte und der das berühmte Museum errichtete. Wie viele Demütigungen musste er ertragen, bis es ihm gelang, in völliger Armut zu entkommen und das Land Israel zu erreichen!

Mir blieben alle diese Leiden erspart, denn ich verließ am Beginn der Dreißiger Jahre, als ich fast noch ein Bub war, Eisenstadt und Österreich, wo meine Ahnen und Urahnen durch hunderte von Jahren lebten, und schloss mich der Gruppe der Pioniere in ›Eretz Israel‹ (›Land Israel‹) an.

Mit großer Liebe trage ich in mir das Gedenken an diese Gemeinde, an ihre Größe und an ihre Kleinlichkeiten. Aber die finsteren historischen Ereignisse führten dazu, dass ich Eisenstadt in meinem Gedächtnis von der geographischen Realität getrennt habe und es irgendwo in fernen Sphären schwebt. Erst Kurt und Ursula Schubert halfen mir zurückzukehren und es manchmal als etwas zu fühlen, was wirklich war.

3 Kommentare zu Meine Kindheit in der Judengasse in Eisenstadt

Jahrzeit

An der Ostwand der Synagoge im Museum befinden sich 755 originale Jahrzeittafeln, die auf einer sieben Meter hohen und drei Meter breiten Stahlgitterkonstruktion zu sehen sind. Die Tafeln wurden durch…

An der Ostwand der Synagoge im Museum befinden sich 755 originale Jahrzeittafeln, die auf einer sieben Meter hohen und drei Meter breiten Stahlgitterkonstruktion zu sehen sind. Die Tafeln wurden durch Zufall im Winter 1994 auf dem Dachboden des Wertheimerhauses gefunden und datieren vom frühen 18. Jahrhundert bis 1938. Die vor allem aus Eisenstadt und den dazugehörigen Gemeinden stammenden Tafeln sind schwarze Metalltafeln in der Größe von ca. 10,5 x 15 cm, die bis 1938 vom Synagogendiener zur Jahrzeit (d. h. die Zeit des jährlichen Gedenkens an verstorbene nahe Verwandte) eines Verstorbenen in der Synagoge aufgehängt wurden.

Drohne und Video: Martin Schwarz
Die beste Qualität erhalten Sie, wenn Sie die Auflösung auf 1440p stellen!


Die Jahrzeittafeln geben nicht nur Aufschluss über gebräuchliche jüdische (Vor)Namen in der Gemeinde, sondern sind wertvolle und oft die einzigen Quellen zur biografischen Erfassung einzelner Juden und jüdischer Familien. Selbstverständlich finden wir Jahrzeittafeln von den großen Gelehrten und Rabbinern der Gemeinde genauso wie von den ganz einfachen Gemeindemitgliedern, egal ob Fau oder Mann. Besonders bemerkenswert und für die Geschichte der Juden von enormem Wert ist die Nennung des hebräischen Namens der Mutter auf praktisch jeder Jahrzeittafel. Oft konnten Daten auf Grabsteinen der beiden jüdischen Friedhöfe in Eisenstadt, die schwer oder nicht eindeutig lesbar sind, durch eindeutige Daten auf den Tafeln korrigiert bzw. ergänzt werden. So ermöglichte erst die Erwähnung des hebräischen Namens der Mutter von Regina (Rachel) Breyer, Bella Chaja, eine korrekte genealogische Zuordnung! Ähnlich bei Gemeinderabbiner Moritz (Mose) Kretsch und Ahron Gabriel:

Der Ausdruck ›Jahrzeit‹ bezeichnet das jährliche Gedenken an Verstorbene (im engsten Sinn des Vaters oder der Mutter) mit Anzünden des Jahrzeitlichtes und dem Kaddisch-Gebet in der Synagoge sowie in manchen Gemeinden mit Fasten und Mischna-Lernen. Jahrzeit zu halten gilt als eine der großen Ehren, die man einem Verstorbenen erweisen kann.

Wie alle religiösen Vorschriften gilt die Trauerpflicht auch erst ab Bar bzw. Bat-Mitzwa, also jener der Firmung oder Konfirmation vergleichbaren Feier, mit der ein jüdischer Knabe nach Vollendung seines 13. Lebensjahres (bei einem Mädchen mit Vollendung des 12. Lebensjahres) in alle religiösen Rechte und Pflichten eines jüdischen Mannes bzw. einer jüdischen Frau eintritt. Jahrzeit wird in der Regel am Tag des Todes, nur die erste Jahrzeit meist am Tag des Begräbnisses gehalten.

Jahrzeitlicht Familie Schiller

Jahrzeitlicht Familie Schiller
in der Synagoge unseres Museums

Der Jahrzeittag beginnt mit dem Ma’ariv (Abend)-Gebet des Vorabends und endet mit dem Mincha (Nachmittags)-Gebet des eigentlichen Tages. Sowohl zu Hause als auch, wenn vorhanden, in der Synagoge, soll am Jahrzeittag ein Jahrzeitlicht vom Vorabend bis zum Abend des Jahrzeittages brennen, also 24 bis 26 Stunden. Zwischen Toraschrein und Jahrzeittafel-Installation befinden sich sechs Jahrzeitlichter. Darunter jenes der Familie Schiller, das Herr Oskar Schiller, der nach 1945 nach Eisenstadt zurückgekehrt war, für seine in der Schoa ermordeten Eltern und Geschwister anlegen ließ (siehe besonders auch den Blogartikel „Bild der Woche – Jahrzeit Oskar Schiller„).

Besondere Freuden, wie die Teilnahme an einer Hochzeit, einer Beschneidung, einer Bar-Mitzwa etc., außer wenn diese Feste ohne Musik durchgeführt werden, werden am Jahrzeittag und insbesondere am Vorabend unterlassen.

Am Schabbat vor der Jahrzeit wird der Trauernde zur Tora aufgerufen, das Gedächtnisgebet ›Gott, voller Erbarmen …‹ wird für den Verstorbenen gebetet.

Am Jahrzeittag wird Kaddisch gesagt. Das Kaddisch-Gebet, wohl eines der bekanntesten Gebete des Judentums, welches sich in vier Arten gliedern lässt, ist vorwiegend in aramäischer Sprache verfasst und basiert auf dem biblischen Buch Ezechiel, Kapitel 38, Vers 23 und auf Versen des Buches Daniel. Weiß jemand den genauen Todestag nicht, wird ein Datum ausgewählt und von da an der Jahrzeittag an diesem Datum gehalten.

Zur Berechnung der Jahrzeit

Ausschlaggebend für die Berechnung ist selbstverständlich der jüdische Kalender, ein Schaltjahr mit 13 Monaten wird als ein Jahr gerechnet. Das heißt, wenn der Todesfall in einem Schaltjahr in die Monate Tischre, Cheschwan, Kislew, Tevet, Schvat oder Adar I fiel, wird die Jahrzeit im jeweiligen Sterbemonat, also in diesem Fall im 13. Monat, begangen. Analog verhält es sich, wenn der Todesfall in einem gewöhnlichen Jahr auf ein Datum der Monate Nisan bis Elul fällt, das nächste Jahr aber ein Schaltjahr ist. Hat sich der Todesfall in einem Schaltjahr im Adar II ereignet, wird in einem gewöhnlichen Jahr der Jahrzeittag im Adar I gehalten, in einem Schaltjahr im Adar II; ereignete sich der Todestag in einem gewöhnlichen Jahr etwa am 5. Nisan, so wird im Schaltjahr darauf der Jahrzeittag ebenfalls am 5. Nisan, also im 13. Monat, gehalten etc.

Fiel der Todestag auf einen Neumondtag, wird der Jahrzeittag immer am selben Neumondtag gehalten (z.B. Todestag erster Neumondtag ist Jahrzeit erster Neumondtag; Todestag zweiter Neumondtag ist Jahrzeittag zweiter Neumondtag). Fiel der Todestag auf den zweiten Neumondtag der Monate Kislew oder Tevet (s.o.), und im nächsten Jahr haben diese Monate nur einen Neumondtag, wird der Jahrzeittag am ersten Neumondtag der jeweiligen Monate gehalten, fiel der Todestag auf einen Tag nach dem Neumondtag in einem Jahr, in dem der betreffende Monat (Kislew oder Tevet) nur einen Neumondtag hatte, der Monat im nächsten Jahr aber zwei Neumondtage hat, wird der Jahrzeittag nicht am zweiten Neumondtag, sondern am Tag nach dem zweiten Neumondtag gehalten.


Historische Objekte wie die Jahrzeittafeln dürfen als Inbegriff jüdischer Geschichte und genuin jüdischer Kultur, deren museale Aufarbeitung und Präsentation eine primäre Aufgabe des Museums ist, gesehen werden. Aber abgesehen davon ist die Installation der 755 Jahrzeittafeln in unserer Synagoge eines meiner Lieblings“objekte“ im Museum.

Keine Kommentare zu Jahrzeit

Zwei Religionen und ein Käppchen?

In der 8. Folge fragen wir uns, wie es kommt, dass auf jüdischen und christlichen Köpfen ein ganz ähnliches, nämlich kreisrundes Käppchen zu finden ist.


Koscher-Schmus1 ‒ Der Podcast des Österreichischen Jüdischen Museums befasst sich vorwiegend mit häufigen Fragen von Besucherinnen und Besuchern, aber auch mit jüdischen Festen oder aktuellen Anlässen und Themen. In der neuen und 8. Folge unseres Podcasts fragen wir uns, wie es kommt, dass auf jüdischen und christlichen Köpfen ein ganz ähnliches, nämlich kreisrundes Käppchen zu finden ist: die Kippa und der Pileolus. Wir beleuchten Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

[1] Schmus (‎שמוס): aus jiddisch שמועס mit der Bedeutung: „Plauderei, Gespräch, Klatsch“ [Zurück zum Text (1)]


Berger, R.: Die Feier der Heiligen Messe. Eine Einführung. Freiburg i.Br. u.a. 2009.

Berger, R.: Pastoralliturgisches Handlexikon. 5. Aufl. Neuausgabe. Freiburg i. Br. u.a. 2013.

Braun, J.: Die liturgische Gewandung im Occident und Orient nach Ursprung und Entwicklung, Verwendung und Symbolik. Freiburg i.Br. u.a. 1907. Online.

De Lange, N.: The Penguin Dictionary of Judaism. London u.a. 2008.

Kolatch, A.J.: Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten. Wiesbaden 2005.

LTHK. Bd. 8 u. 11 (3. Aufl.).

Lumma, L.O.: Crashkurs Liturgie. Eine kurze Einführung in den katholischen Gottesdienst. Regensburg 2010.

Schoeps, J.H. (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. Überarbeitete Neuausgabe. Gütersloh/München 1998.

Stowasser, J.M. u.a.: Stowasser. Österreichische Schulausgabe. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. Aufl. 1997. Nachdr. 2007. München u.a. 2006.

TRE. Bd. 13.

Urban, A./Bexten, M.: Kleines liturgisches Wörterbuch. Freiburg i. Br. u.a. 2007.

Wigoder, G. u.a. (Hgg.): The New Encyclopedia of Judaism. New York/Jerusalem 1989/2002.


Keine Kommentare zu Zwei Religionen und ein Käppchen?

Das Kreuz mit dem Kreuz

Interessanterweise haben nur zwei ehemalige jüdische Gemeinden des Burgenlandes jüdische Ortsnamen. Unsere 7. Podcastepisode beschäftigt sich mit diesen beiden hebräischen bzw. jiddischen Ortsnamen.


Koscher-Schmus1 ‒ Der Podcast des Österreichischen Jüdischen Museums befasst sich vorwiegend mit häufigen Fragen von Besucherinnen und Besuchern, aber auch mit jüdischen Festen oder aktuellen Anlässen und Themen. In dieser 7. Folge geht es um ein Thema, das eigentlich schon längst fällig war, nämlich die jüdischen Ortsnamen der ehemaligen jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes.

[1] Schmus (‎שמוס): aus jiddisch שמועס mit der Bedeutung: „Plauderei, Gespräch, Klatsch“ [Zurück zum Text (1)]


Denkmal für die Juden von Zelem (Wikipedia).

Grabstein/Grabinschrift Karl (Karl) Brandl aus Zelem, jüdischer Friedhof Mattersburg.

Seder Birkat ha-Mazon, Deutschkreutz 1751.

Website der Gemeinde Deutschkreutz.

Zimmermann Fritz, Die Ortsnamen der jüdischen Gemeinden im Burgenland, in: Hugo Gold, Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes, Tel Aviv 1970, 125-132.


2 Kommentare zu Das Kreuz mit dem Kreuz

Paul Celan – ’sah daß ein Blatt fiel und wußte, daß es eine Botschaft war‘

Literaturwissenschaftliche Fachtagung Pädagogische Hochschule Burgenland in Kooperation mit dem Österreichischen Jüdischen Museum Eisenstadt Termin: 12. 11. 2020 von 9.00 – 17.00 Uhr Onlinetagung: Meeting-Registrierung (Zoom). Paul Celan wurde am 23….

Literaturwissenschaftliche Fachtagung

Pädagogische Hochschule Burgenland in Kooperation mit dem Österreichischen Jüdischen Museum Eisenstadt

Termin: 12. 11. 2020 von 9.00 – 17.00 Uhr

Onlinetagung: Meeting-Registrierung (Zoom).


Paul Celan wurde am 23. 11. 1920 in Czernowitz geboren und starb (vermutlich) am 20. 4. 1970 in Paris. Somit jährt sich 2020 sein Geburtstag zum 100. und sein Todestag zum 50. Mal. Als Sohn deutschsprachiger jüdischer Eltern wurde er im Nationalsozialismus in einem Arbeitslager festgehalten und später, als er ins jüdische Ghetto Czernowitz zurückkehrte, zu Zwangsarbeit im Straßenbau verpflichtet. Seine Todesfuge zählt zu den zentralen Werken der Lyrik des 20. Jahrhunderts.
Diese Fachtagung widmet sich dem aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschungsstand zu Paul Celan.

Begrüßung:

  • Vizerektorin HS.-Prof. Mag. Inge Strobl-Zuchtriegel, MAS MSc, PH Burgenland
  • MMMag. Dr. Christopher Meiller, Jüdisches Museum Eisenstadt
  • Moderation: HS-Prof. Mag. Dr. Eva Maltrovsky, Prof. Mag. Dr. Martin Hainz und MMag. Dr. Lukas Pallitsch

9.10 – 10.10 Uhr: Prof. em. Dr. Leonard M. Olschner, Queen Mary University of London: Celan lesen, Celan denken. Fünf Thesen zur vorläufigen Lektüre.

Bei diesem Referat geht es um das Thematisieren der Schwierigkeiten bei der Lektüre von Celans Lyrik und das Erkennen von möglichen Textzugängen zur Lektüre.

10.10 – 10.30 Uhr: Kaffeepause

10.30 – 11.30 Uhr: Dr. habil. Christine Ivanovic, Universität Wien: Eine Art Heimkehr.

Celans „Meridian“ beschreibt eine Kreisbewegung, die im Durchgang durch das Fremde in sich selbst zurückkehrt. Diese Figur der Heimkehr soll im Kontext der Philosophiegeschichte von Aristoteles über Hegel bis Lacoue-Labarthe evaluiert und an einzelnen Gedichtbeispielen aus dem Werk Celans belegt werden.

11.30 – 12.30 Uhr: Univ.-Doz. Mag. Dr. Artur R. Boelderl, Universität Klagenfurt: „Alles ist mehr, als es ist“ – Musil und Celan.

Der Vortrag folgt den Spuren des poetischen „Übermaßes der Innigkeit“ (Hölderlin), dem Umstand also, dass „alles, was ist, im Übermaß ist“ (Bataille), zu jenem „Nullpunkt der Literatur“ (Barthes), an dem das Sein und die Zeichen konvergieren, und legt das Augenmerk darauf, wie diese Konvergenz im sonst sehr heterogenen literarischen Schaffen Musils („Alle unsere Erlebnisse sind mehr, als wir erleben“) und Celans („Alles ist mehr, als es ist, alles ist weniger“) zum Tragen kommt.

12.30 – 14.00 Uhr: Mittagspause

14.00 – 15.00 Uhr: Prof. Dr. Dr. h.c. Andrei Corbea-Hoisie, Al. I. Cuza-Universität, Iasi (Rumänien): Um Celans „rumänische Büffel“. Nochmals über die Entstehung des Gedichtes Coagula.

Eine Reflexion zum Verhältnis des Dichters zu seiner geistigen Umgebung und intellektuellen Ausbildung. Gegenüberstellung Celan’scher Äußerungen mit der dichterischen Verwertung des Konzepts „Mitteleuropa“ in den 80 Jahren. Eine ideengeschichtliche Analyse.
Moderation: Lukas Pallitsch

15.00 – 16.00 Uhr: Prof. Dr. Markus May, Ludwig-Maximilians-Universität München: Rot- und Judenwelsch. Zu Paul Celans Gedicht „Eine Gauner- und Ganovenweise“.

Mit dem Gedicht „Eine Gauner- und Ganovenweise“ aus Paul Celans Band „Die Niemandsrose“ setzt sich der Autor mit den Mitteln extremer Polyphonie gegen die Plagiatsvorwürfe der Witwe Goll zur Wehr. Die Analyse der Sprachgestalt offenbart das Muster einer spezifischen Approbation, das heteronome Stereotypen subversiv umzudenken und im Sinne einer Selbstzuschreibung umzucodieren in der Lage ist.

16.00 – 17.00 Uhr: Prof. Mag. Dr. Martin A. Hainz, PH Burgenland: „Keinmaleins“. Hoffentlich dialogische close readings zu und mit Paul Celan.

Worte sind zu lesen, um sie wieder in Funktion zu setzen: diese „Alarmsignale“ nämlich. „»Schreiben« heißt nichts anderes als sie in Funktion setzen.“ (W. Benjamin)

Dies ist das im Vortrag zu rekonstruierende Anliegen Celans, der unermüdlich als Leser Wörter und Worte so setzte, dass sie wieder etwas genau zeigten, das zuvor nur mehr metaphorisch war, und zwar genau in dem Sinne, dass die Uneigentlichkeit, die freilich unhintergehbar ist, ihnen wieder abzulesen war, aber auch, wie sie zu dem, was es eigentlich zu sagen geben möge, jedenfalls stehen.

Abschluss

17.00 Uhr: Ende der Veranstaltung


Keine Kommentare zu Paul Celan – ’sah daß ein Blatt fiel und wußte, daß es eine Botschaft war‘

ORF-Museumszeit

Vom 3. bis 10. Oktober 2020 findet als Ersatz für die Lange Nacht der Museen die ORF Museumszeit, Kennwort „ORF-Ticket“, statt. Auch unser Museum nimmt gerne daran teil und wir…

Vom 3. bis 10. Oktober 2020 findet als Ersatz für die Lange Nacht der Museen die ORF Museumszeit, Kennwort „ORF-Ticket“, statt.
Auch unser Museum nimmt gerne daran teil und wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns in dieser besonderen kommenden Woche besuchen!


Dienstag, 06. Oktober 2020 und Donnerstag, 08. Oktober 2020, jeweils 15 – 15.45 Uhr:

Führung Synagoge

Ein Überblick zu Synagoge, jüdischem Gottesdienst und der Rolle der Tora ‒ in der ältesten in ihrer ursprünglichen Funktion erhaltenen Synagoge Österreichs.

Preis pro Person: 3 Euro (inkludiert den Eintritt in das Museum).



Mittwoch, 07. Oktober 2020, 20 Uhr:

Führung älterer und jüngerer jüdischer Friedhof

1.400 Grabsteine und viele Fragen: „Woher sind die Juden eigentlich nach Eisenstadt gekommen?“, „Was war das Schicksal der Angehörigen der Toten 1938?“…

Der ältere Friedhof, belegt von 1679 bis 1874, kann als einer der bedeutendsten jüdischen Friedhöfe in Europa gelten. Der jüngere Friedhof, bis 1938 belegt, 1992 geschändet, erzählt spannende Geschichten über die letzten Jahrzehnte jüdischen Lebens in Eisenstadt.

Wir empfehlen das Mitbringen einer Taschenlampe und ersuchen die Männer um Mitnahme einer Kopfbedeckung!

Die Führung findet bei jedem Wetter statt. Bitte auf das Schuhwerk achten wegen eventuell nassem Gras!

Preis pro Person: 3 Euro.

Treffpunkt: Österreichisches Jüdisches Museum, 7000 Eisenstadt, Unterbergstraße 6.



Museumszeit_Logo, Credit: ORF-Design

Museumszeit_Logo, Credit: ORF-Design


Keine Kommentare zu ORF-Museumszeit

Finde:

Generic selectors
Nur exakte Ergebnisse
Suche im Titel
Suche im Inhalt
Post Type Selectors
rl_gallery
Filter nach Kategorien
Abbazia / Opatija
Cheder
Ebenfurth
Fiume / Rijeka
Friedhof Eisenstadt (älterer)
Friedhof Eisenstadt (jüngerer)
Friedhof Mattersburg
Friedhof Triest
Friedhof Währing
Genealogie
Karmacs
Kunst und Kultur
Leben und Glaube
Mitbringsel / Souvenirs
Podcasts
Salischtschyky / Zalishchyky
nach oben