Koschere Melange

Das Blog des Österreichischen Jüdischen Museums - ISSN 2410-6380

Schlagwort: deutschkreutz

Kein Platz für die Pendeluhr

Über ein kleines, meist übersehenes, aber sehr wichtiges Detail in der Synagoge Synagogen im Burgenland: Ein historischer Miniexkurs Pendel- und Wanduhren, eine Ministatistik fürs Burgenland Die ehemaligen Synagogen des Burgenlandes…

Über ein kleines, meist übersehenes, aber sehr wichtiges Detail in der Synagoge


Synagogen im Burgenland: Ein historischer Miniexkurs

Auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes befanden sich vor 1938 dreizehn Synagogen[1], davon zwölf Gemeindesynagogen und die ehemalige Privatsynagoge Samson Wertheimers in Eisenstadt.

Die Gemeindesynagogen wurden im 19. Jahrhundert erbaut (Ausnahme Oberwart 1904), in den meisten Fällen an der Stelle der alten und zu klein gewordenen Synagogen.

Heute existieren nur mehr

  1. die ehemalige Synagoge in Stadtschlaining, die als Ausstellungsraum genutzt wird,
  2. die jüngst renovierte ehemalige Synagoge in Kobersdorf, die für Symposien, Konzerte, Lesungen, Kulturvermittlung für Schüler:innen usw. zur Verfügung steht sowie
  3. die Privatsynagoge im Wertheimerhaus (seit 1972 Österreichisches Jüdisches Museum), die einzige „eingeweihte“ Synagoge (engl.: „living synagoguge“) im Burgenland und die älteste in ihrer ursprünglichen Funktion erhaltene Synagoge Österreichs.


Pendel- und Wanduhren, eine Ministatistik fürs Burgenland

  • In acht von dreizehn der ehemaligen Synagogen des Burgenlandes sehen wir auf historischen Fotos deutlich, dass sich an der Ostfront eine Uhr befand
  • Siebenmal rechts vom Toraschrein, einmal links vom Toraschrein (Schlaining)
  • Sechsmal eine Pendeluhr und zweimal eine Wanduhr (Schlaining und Güssing)
  • Alle Pendeluhren sind Historismus-Uhren, altdeutsche Pendeluhren, die gekauft wurden, nachdem die Synagoge erbaut worden war und eingerichtet wurde.


Die ehemaligen Synagogen des Burgenlandes mit Pendel- oder Wanduhr

Kobersdorf

Die kleine Rundfahrt zu den (ehemaligen) Synagogen des Burgenlandes beginnt ausnahmsweise mit Kobersdorf. Ich gestehe, dass mich die jüngst renovierte ehemalige Synagoge von Kobersdorf auf die Idee zu diesem kleinen Artikel brachte. Denn auf den Infoständen innerhalb des Zubaus zum Synagogengebäude befinden sich Informationsprospekte, auf denen sich das unten abgebildete historische Foto der Synagoge befindet. Auf diesem Foto ist eindeutig die Pendeluhr erkennbar, die sich rechts vom Toraschrein befand. Und ich würde mich wundern, wenn noch keine:r der vielen Besucher:innen gefragt hätte, warum auf dem historischen Foto eine Pendeluhr rechts vom Toraschrein zu sehen ist und in der renovierten ehemaligen Synagoge nicht. Oder auch, was die Pendeluhr eigentlich für einen Zweck hatte? Natürlich hätten mich die Antworten der geschätzten Synagogenführer:innen auch sehr interessiert ;-)


Eisenstadt

Sowohl in der Gemeindesynagoge als auch in der Privatsynagoge im Wertheimerhaus, in dem heute das Österreichische Jüdische Museum untergebracht ist, befand sich rechts vom Toraschrein eine Pendeluhr.



Thomas Petters erwähnt in seiner Diplomarbeit über die Gemeindesynagoge Eisenstadt auch die Uhr mit Verweis auf Naama G. Magnus, 89[2]:

In der Blickrichtung von der Bima gen Süden, befand sich rechts neben dem Toraschrein eine Pendeluhr, welche offenbar eine burgenländische Besonderheit in der Synagogeneinrichtung darstellte.

Thomas Petters, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Eisenstadt, 49[3].

Die Gemeindesynagoge wurde bereits im Juni 1938 von den Nazis innen verwüstet, 1951 an die Gewerkschaft verkauft und abgerissen. Seit 19. Oktober 2022 befindet sich am Standort der ehemaligen Synagoge eine neue Gedenktafel.

Die Wertheimersynagoge wurde zwischen 1694 und 1716 erbaut und im Zuge der Umbauarbeiten am Wertheimerhaus für das Österreichische Jüdische Museum 1979 renoviert. Ob die Pendeluhr damals noch vorhanden war, ist leider nicht bekannt. Ich wüsste allerding keinen Grund, warum sie nach 1945 nicht mehr vorhanden gewesen sein soll, da die Wertheimersynagoge während des Krieges keinerlei Zerstörung erfahren hatte. Sehr schade, dass die Pendeluhr heute fehlt. Jedenfalls kennen wir die Pendeluhr nur mehr von diesem historischen Foto:


Mattersburg

Die Pendeluhr befand sich ebenfalls rechts vom Toraschrein und wird von Veronika Schmid in ihrer Diplomarbeit über die ehemalige Synagoge zwar modelliert, aber interessanterweise bei der Bildbeschriftung nicht erwähnt[4]. In den virtuellen Rekonstruktionen ist die Pendeluhr deutlich zu erkennen[5].

Der reich geschmückte Toraschrein hatte seinen Platz an der Ostwand des Gebäudes, daneben hing eine Pendeluhr.

Magnus N., a.a.O., 125

Die Gemeindesynagoge von Mattersburg wurde im September 1940 gesprengt. Seit 5. November 2017 erinnert ein Denkmal am Standort der ehemaligen Synagoge an die Synagoge und die jüdische Geschichte des Ortes.


Deutschkreutz

In der Synagoge von Deutschkreutz befand sich die Pendeluhr ebenfalls rechts vom Toraschrein und wird in der Literatur[6], wenn auch sehr kurz, erwähnt.

Die Gemeindesynagoge wurde am 16. Februar 1941 gesprengt, seit 2012 erinnert zumindest eine Gedenktafel im Zentrum des Ortes an die jüdische Gemeinde.


Lackenbach

Die Pendeluhr rechts vom Toraschrein in der ehemaligen Synagoge von Lackenbach wird in der Literatur erwähnt, wenn auch nur mit einer Abbildung in der Diplomarbeit von Benjaim Gaugelhofer[7] (ohne in der Beschreibung darauf einzugehen), als auch von Naama G. Magnus:

Rechts vom Toraschrein hing die obligatorische Pendeluhr.

Magnus, a.a.O., 201

Die Gemeindesynagoge von Lackenbach wurde 1941 oder 1942 gesprengt. Heute erinnert eine kleine, unscheinbare Gedenktafel an die Synagoge.


Bleiben noch die beiden ehemals batthyanischen jüdischen Gemeinden im Südburgenland, in denen sich nachweislich eine Uhr, und zwar eine Wanduhr, jedenfalls keine Pendeluhr befunden hat, Schlaining und Güssing.

Schlaining

In der ehemaligen Synagoge von Schlaining befand sich eine Wanduhr links vom Toraschrein, heute ist in der ehemaligen Synagoge eine Ausstellung zu sehen.


Güssing

Auch in der ehemaligen Synagoge von Güssing befand sich eine Wanduhr, allerdings nicht so wie in Schlaining links, sondern rechts vom Toraschrein. Die Synagoge war 1938/39 in eine Turn- und Festhalle umgebaut und 1953 abgetragen worden. An ihrer Stelle steht heute das Rathaus der Stadt Güssing.

In der Reichskristallnacht (9./10. November 1938) warfen SA- und HJ-Mitglieder alle beweglichen Gegenstände auf den Platz vor dem Tempel und verbrannten sie. Darunter befanden sich Matrikelbücher, Thorarollen, Möbel, vielerlei Dekorationen, Luster, der siebenarmige Leuchter und eine wertvolle Uhr mit römischen Ziffern. Zweimal versuchte man auch den Tempel in Brand zu setzen, doch das Feuer erlosch jedesmal von allein …

Textliche Beschreibung der Synagoge aus der Privatsammlung des Herrn Karl Gober aus Güssing, undatiert, zitiert nach Bezcak Matthäus, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Güssing[8]

Angemerkt werden muss, dass wir von den übrigen ehemaligen Synagogen (Oberwart, Rechnitz, Frauenkirchen, Kittsee und Gattendorf) keine historischen Fotos mit einer Uhr oder Pendeluhr kennen. Dieser Umstand schließt aber selbstverständlich nicht aus, dass sich nicht auch in der einen oder anderen dieser ehemaligen Synagogen eine Uhr oder Pendeluhr befunden haben könnte.


Die Pendeluhr ‒ eine burgenländische Besonderheit?

Naama G. Magnus schreibt (s.o.), dass die Pendeluhr offenbar eine burgenländische Besonderheit in der Synagogeneinrichtung darstellte.

Selbst wenn die Betonung auf Pendeluhr (und nicht nur auf „Uhr“) liegt, darf angezweifelt werden, ob die Pendeluhr in den ehemaligen Synagogen des Burgenlandes wirklich eine Besonderheit waren.
Denn Pendeluhren finden wir auch in ehemaligen Synagogen anderer jüdischer Gemeinden, etwa in Diespeck (Landkreis Neustadt an der Aisch in Mittelfranken, Bayern) oder in der ehemaligen Synagoge von Niederwerrn (Kreis Schweinfurt, Unterfranken, Bayern).

Das jüdische Museum der Schweiz in Basel erhielt im April 2018 eine Synagogen-Pendeluhr, die im jüdischen Gemeindehaus in Gailingen am Hochrhein (Deutschland an der Grenze zur Schweiz) hing und die, 1820 hergestellt, die nationalsozialistische Zeit überlebt hatte. Siehe den Jahresbericht 2018 des Museums (S. 26).

Eine Wanduhr wiederum finden wir etwa in der berühmten Zori-Gilod-Synagoge in Lemberg (Lviv, Ukraine) (2. Bild von oben).

Und schließlich finden wir sogar eine Wanduhr im Arbeitszimmer von niemand Geringerem als dem berühmten Gaon von Wilna (1720-1797), der als Inbegriff des aschkenasischen Judentums litauischer Prägung gilt:

Commemorative Portrait of the Vilna Gaon. Lithograph, 1897. Photo courtesy of the William A. Rosenthall Collection, Addlestone Library, College of Charleston.

Commemorative Portrait of the Vilna Gaon. Lithograph, 1897. Photo courtesy of the William A. Rosenthall Collection, Addlestone Library, College of Charleston.


Wir finden also zwar gelegentlich in der Literatur die Erwähnung einer Pendeluhr oder einer Wanduhr in den ehemaligen Synagogen, offensichtlich hat sich aber niemand Gedanken gemacht, warum diese Uhren eigentlich angebracht wurden. Ich habe den Eindruck, dass die Uhr in der Synagoge vielfach nur als Schmuckstück, nur als Wanddekoration gesehen wird.

Und damit kommen wir zum letzten und wichtigsten Punkt:

Warum gab / gibt es Pendeluhren oder Wanduhren in Synagogen?

Es sind wohl vor allem drei Gründe anzuführen:

  1. Zur Überwachung der Gebetszeiten sowie zum korrekten Einhalten von Schabbatbeginn und -ende.
    Der Schabbat beginnt bekanntlich nicht mit dem Sonnenuntergang am Freitag Abend (Erev Schabbat), sondern mit dem Anzünden der Kerzen, also eine gewisse Zeit vor Sonnenuntergang. In Wien etwa werden die Kerzen zehn Minuten vor Sonnenuntergang gezündet, in anderen Gemeinden sind es 18 Minuten, 21 Minuten wie in Tel Aviv oder 40 Minuten wie in Jerusalem. Diese Zeit vor dem Sonnenuntergang wird als „Tosefet Schabbat“ („Zusatz zum Schabbat“) bezeichnet. Für mehr Informationen zum Schabbatbeginn siehe den Artikel „ Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums“ von Chajm Guski. Auch am Kalender für Gebetszeiten und Shabbat Beginn in Wien“ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien fällt auf, dass 10 Minuten nach dem „Schabbatbeginn“ (sprich nach dem Kerzenanzünden) das Wort „Skie“ steht. Das bedeutet ‎שְׁקִיעַת הַחַמָּה (schkiat hachama) oder ‎שְׁקִיעַת הַשֶּׁמֶשׁ (shkiat haschemesch), also „Sonnenuntergang“. Damit soll es aber hier genug sein. Es sollte nur klar werden, wie wichtig der exakte Zeitpunkt des Schabbatbeginns ist, dessen korrekte Einhaltung die Pendeluhr oder Wanduhr in der Synagoge gewährleisten soll. Im Regelfall ist der korrekte Schabbatbeginn noch wichtiger als der Zeitpunkt des Schabbatendes (v.a. wegen des „Tosefet Schabbat“). Natürlich mit Ausnahme von Jom Kippur, denn an diesem ist wohl der Zeitpunkt des Jom Kippurendes nach dem fast 26stündigen Fasten zumindest genauso wichtig.

    Screenshot Website IKG Wien (www.ikg-wien.at)

    Screenshot Website IKG Wien (www.ikg-wien.at)


    Interessant ist jedenfalls, dass Uhren auch in Synagogen von Gemeinden waren, die einen Eruv, also eine Art Schabbatgrenze, hatten (wie Eisenstadt!). Denn innerhalb dieser Grenze werden die Schabbatregeln nicht im selben Maße angewendet. Für mehr Informationen zum Eruv siehe den Artikel Eruv“ von Chajm Guski.
    Heute, ganz am Rande angemerkt, gibt es im deutschsprachigen Raum nur in Wien einen Eruv, der, immerhin 25km lang, selbstverständlich vor jedem Schabbat und jedem Feiertag kontrolliert wird, erkennbar an der Ampel, die, wenn der Eruv in Funktion ist, auf grün schaltet. Siehe auch ein Interview zum Wiener Eruv auf der Website von SFR «Der Eruv hat ein enormes Aufleben des jüdischen Lebens bewirkt».

    Screenshot Ampel von https://www.eruv.at

    Screenshot Ampel von https://www.eruv.at




  2. Einerseits trugen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Menschen noch keine Armbanduhr und andererseits trugen/tragen am Schabbat manche keine Armbanduhr.
    Generell verboten am Schabbat sind elektrische Geräte, die Handhabung und Betätigung aller Geräte, die irgendwie mit Licht zu tun haben, bergen ebenfalls die Gefahr, gegen das Verbot, ein Feuer anzuzünden, zu verstoßen. Vielleicht waren manche in den ehemaligen heiligen jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes etwas sensibler in der Frage der Uhren, weil es von alters her intensive Diskussionen der Gelehrten zur Frage um die Verwendung von Uhren am Schabbat gab und weil es in diesem Zusammenhang auch eine Lehrmeinung von Rabbi Meir Eisenstadt (gest. 1744 und begraben am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt) in seinem Responsenhauptwerk „Panim Me’irot“ („Leuchtendes Antlitz“) gab. Es geht dabei um das Ziehen der Ketten, was dem Aufziehen der Uhren entspricht. Die eigentliche Gelehrtendiskussion, hier nur sehr grob beschrieben, drehte sich um die Frage, ob das Ziehen dieser Ketten (um den Betrieb der Uhr zu beginnen) als das Herstellen oder Reparieren eines Gerätes angesehen wird oder ob dies nur als Art der Verwendung eines bereits vorhandenen Gerätes angesehen wird, eine Meinung, wie sie R. Meir Eisenstadt in Panim Me’irot II, 123 vertritt.


  3. Die Uhr in der Synagoge, egal ob Pendel- oder Wanduhr, erinnert alle, die die Synagoge besuchen, daran, sich der Zeit allgemein, besonders aber, sich auch ihrer eigenen Zeit stets bewusst zu sein.

    אָ֭דָם לַהֶ֣בֶל דָּמָ֑ה יָ֝מָ֗יו כְּצֵ֣ל עוֹבֵֽר׃
    Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten.

    Psalm 144,4

    Rabbi David Kimchi (RaDaK, 1160-1235) fügt hinzu:

    כמו הבל שעובר במהרה בהתפשט השמש או פירושו כצל העוף העובר בעופפו:
    Der Schatten eines Baumes verschwindet, wenn die Sonne untergeht, aber der Schatten eines Vogels bewegt sich gleich dem Vogel im Flug.

    RaDaK zu Psalm 144,4, zitiert nach Rabbi Gershon Winkler, Walking Stick Foundation Cedar Glen, CA

    Das Thema „Zeit“ im Judentum füllte schon und würde weiter viele dicke Bücher füllen. Selbstverständlich wird die Antwort je nach der religiösen Position innerhalb des Judentums ausfallen. Sie reicht von der Zeit als Einsteins vierte Dimension bis hin zur religiösen Tradition, dass die Zeit auch eine heilige Dimension hat (s.o. die Uhr im Arbeitszimmer des Gaon von Wilna).

    תניא היה רבי מאיר אומר חייב אדם לברך מאה ברכות בכל יום
    Es sagte R. Meir: Der Mensch ist verpflichtet, täglich 100 Segenssprüche zu sagen.

    Babylonischer Talmud, Traktat Menachot 43b

    Diese Verpflichtung ermöglicht dem Menschen, viele heilige Momente bewusst zu erleben, die sonst nicht als heilig betrachtet werden würden, der Mensch hat dadurch sozusagen die Möglichkeit, permanent das Heilige im Alltäglichen zu finden. Schneur Salman (1745-1812), der Begründer der chassidischen Chabad-Lubawitsch-Bewegung sah schon die Zeit als wesentlichen Faktor für die jüdische Praxis, jede verpasste Gelegenheit zur Erfüllung einer Mizwa kann niemals wieder gut gemacht werden, für seinen Nachfolger Rabbi Menachem Mendel Schneerson (1902-1994) hat jeder Zeitpunkt unendliches Potenzial, unabhängig davon, was voher war oder in Zukunft passieren wird.

    אֲפִילּוּ אִי בַּר נָשׁ קַיָּים אֶלֶף שְׁנִין, הַהוּא יוֹמָא דְאִסְתַּלַּק מֵעַלְמָא, דָּמֵי לֵיהּ כְּאִילּוּ לָא אִתְקְיַּים בַּר יוֹמָא חַד:
    Wir könnten selbst 1.000 Jahre leben und es würde sich noch immer anfühlen, als hätten wir nur einen einzigen Tag gelebt.

    Zohar 1:223b


Die Pendeluhr schlägt heute im Burgenland nicht mehr.



Fußnoten

[1] Eisenstadt: Gemeindesynagoge und Wertheimersynagoge, Frauenkirchen, Gattendorf, Kittsee, Mattersburg, Kobersdorf, Lackenbach, Deutschkreutz, Schlaining, Oberwart, Rechnitz, Güssing. [Zurück zum Text (1)]

[2] Magnus Naama G., Auf verwehten Spuren ‒ Das jüdische Erbe im Burgenland, Teil 1: Nord- und Mittelburgenland, Wien 2013 [Zurück zum Text (2)]

[3] Petters Thomas, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Eisenstadt, Wien 2016. [Zurück zum Text (3)]

[4] Schmid Veronika, Virtuelle Rekonstruktion der ehemaligen Synagoge in Mattersburg (Nagymarton; Mattersdorf), Wien 2016, 97. [Zurück zum Text (4)]

[5] Schmid V., a.a.O., 116. [Zurück zum Text (5)]

[6] Literatur: Braimeier Bernhard, Virtuelle Rekunstruktion der Synagoge in Deutschkreutz, Wien 2015, 55; Magnus N. G., a.a.O., erwähnt die Uhr nicht. [Zurück zum Text (6)]

[7] Literatur: Gaugelhofer Benjamin, Virtuelle Rekunstruktion der Synagoge Lackenbach, Wien 2016, 94 [Zurück zum Text (7)]

[8] Literatur: Beczak Matthäus, Virtuelle Rekunstruktion der Synagoge in Güssing, Wien 2015, 13 [Zurück zum Text (8)]


Vielen Dank an Claudia Markovits-Krempke, Israel, Traude Triebel, Landesrabbiner Schlomo Hofmeister und Motti Hammer, Wien.

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Deutschkreutz – Wilhelm Goldschmidt – Rapid

Am 8. Jänner 2019 wurde ein „Stein der Erinnerung“ für Wilhelm Goldschmidt enthüllt. Die Rapidspitze und zahlreiche Prominenz waren zugegen, die Medien berichteten (z.B. derstandard). Wilhelm Goldschmmidt wurde am 5….

Am 8. Jänner 2019 wurde ein „Stein der Erinnerung“ für Wilhelm Goldschmidt enthüllt. Die Rapidspitze und zahlreiche Prominenz waren zugegen, die Medien berichteten (z.B. derstandard).

Wilhelm Goldschmmidt wurde am 5. Juni 1942 mit dem Transport 25 von Wien nach Polen deportiert und in der Schoa ermordet.

Stein der Erinnerung für Wilhelm Goldschmidt

Stein der Erinnerung für Wilhelm Goldschmidt

Quelle: Facebookseite von SKRAPID

Rapid feiert heuer sein 120jähriges Bestehen, auf der Website des Fußballklubs finden wir die Enthüllung des „Steines der Erinnerung“ zumindest als eine der wichtigsten Aktivitäten in diesem Jubiläumsjahr.

Der damalige Sekretär des Klubs, Wilhelm Goldschmidt, war es, der am 8. Jänner 1899 den 1. Wiener Arbeiter Fußball-Club in Sportklub Rapid umbenannte. Darüber hinaus erfahren wir leider wenig über Wilhelm Goldschmidt.

Daher haben wir uns selbst auf die Suche gemacht und stellten u.a. fest, dass sein Vater aus Deutschkreutz stammte, aber der Reihe nach:

Heinrich Goldschmied (sic!), Oberoffizial der Israelitischen Kultusgemeinde, geb. März 1845 (so im Sterbebucheintrag, s.u.; in den Geburtsmatriken von Deutschkreutz finden wir Ignatz Goldschmid, geb. 01. August 1847!) in Deutschkreutz, Sohn des Carl Goldschmied und der Catti Horvát, beide Eltern leben in Wien, wohnhaft Wien Rossau, Porzellangasse 22, heiratet am 17. Februar 1878 in Puklitz (Tschechien) Julye Pokorny, geb. 01. Jänner 1847, Tochter des Jakob Pokorny und der Juditha Ornstein, beide verstorben, aus Puklitz. Heinrich war bei der Hochzeit 32 Jahre alt, Julye 31 Jahre, beide ledig.

Hochzeit Heinrich Goldschmied und Julye Pokorny, 17. Feburar 1878 in Puklitz, eingetragen in Iglau

Hochzeit Heinrich Goldschmied und Julye Pokorny, 17. Feburar 1878 in Puklitz, eingetragen in Iglau



Julye Goldschmidt, geb. Pokorny, starb am 28. April 1909 in Wien II, Rembrandtstraße 19, Heinrich Goldschmidt starb am 11. Juli 1914 in Wien IX, Müllnergasse 3. Julye und Heinrich sind am Zentralfriedhof Wien, Tor I gemeinsam begraben (Gruppe 051, Reihe 010, Grab 004).


Heinrich Goldschmidt und Julye Pokorny hatten den gemeinsamen Sohn

Wilhelm Goldschmidt, geb. 22. Juli 1880 in Brünn:

Geburt Wilhelm Goldschmidt, 22. Juli 1880 in Brünn

Geburt Wilhelm Goldschmidt, 22. Juli 1880 in Brünn



Wilhelm Goldschmidt, Buchhalter, geboren in Brünn, zuständig nach Wien, heiratet am 23. Juni 1907 im Stadttempel in der Seitenstettengasse 4 in Wien Elsa Herzog, geb. 24. März 1885 in Wien, zuständig nach Zombor, Ungarn, Tochter des Moriz Herzog, Kaufmannsgehilfe aus Großszombor in Ungarn, und der Netti Werner, wohnhaft Wien IX, Alserbachstraße 22.

Wilhelm Goldschmidt wurde in der Schoa ermordet (s.o.), seine Frau starb in Greater London 1968.

Wilhelm Goldschmidt und Elsa Herzog hatten den gemeinsamen Sohn

Heinrich Goldschmidt, geb. 16. Jänner 1922 in Wien II, Große Schiffgasse 22. Heinrich Goldschmidt konnte 1938 nach Palästina / Israel emigrieren und starb am 26. Elul 5765 = 30. September 2005. Er ist in Rishon Letsion, Israel, begraben. Auffällig, dass das Geburtsdatum am Grabstein mit 1921 angegeben wird, im Geburtsbuch (s.u.) aber 1922.
Vater Wilhelm wird in der Grabinschrift Se’ev genannt (entspricht Wilhelm), Mutter: Elsa.
Heinrich Goldschmidts Frau Chaia Goldschmidt starb 2010.

Geburt Heinrich Goldschmidt, 16. Jänner 1922 in Wien

Geburt Heinrich Goldschmidt, 16. Jänner 1922 in Wien


Thanks to Orit Lavi, Israel!

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Deutschkreutz – Gedenkveranstaltung

Misrachi Österreich lädt ein Deutschkreutz Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Zelem (Deutschkreutz) im Burgenland 1672 – 1944 Wann: Donnerstag, 23. Oktober 2014 Wo: 17.30h Jüdischer Friedhof Deutschkreutz Gedenken an die…

Misrachi Österreich lädt ein

Deutschkreutz

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Zelem (Deutschkreutz) im Burgenland 1672 – 1944

Wann: Donnerstag, 23. Oktober 2014

Wo: 17.30h Jüdischer Friedhof Deutschkreutz

  • Gedenken an die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter
  • Worte des Gedenkens und Gebete: Rav Joseph Pardess, Rabbiner der Misrachi

Gedenktafel für die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter, Deutschkreutz

18.15h Schloss Deutschkreutz

  • Begrüßung: Nechemja Gang, Präsident der Misrachi Österreich
  • Grußworte: Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien,
    Oberrabbiner Prof. Chaim Eisenberg, Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien

Referate:

  • Mag. Franz Sauer, Bundesdenkmalamt, Abt. für Archäologie: Der Südostwall – Eine Bestandsaufnahme
  • Dr. Eleonore Lappin-Eppel, Österreichische Akademie der Wissenschaften: Das Lager für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in Deutschkreutz – Eine Spurensuche
  • Univ.-Prof. Dr. Shlomo Spitzer, Institut für jüdische Geschichte, Bar-Ilan-Universität, Ramat Gan, Israel: Rabbinische Persönlichkeiten in der jüdischen Gemeinde Zelem
  • Nechemja Gang: Vorstellung des virtuellen Projekts „Der jüdische Friedhof von Zelem erzählt seine Geschichte“
  • DI Hanna A. Liebich, Bundesdenkmalamt, Abt. für Architektur: Der jüdische Friedhof von Zelem – Versuch einer Visualisierung
  • Schlusswort: Landeshauptmann des Burgenlandes Hans Niessl: Die Botschaft der Vergangenheit an die kommenden Generationen

Gedenktafel für die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter, Deutschkreutz

Kleines Buffet und Getränke

Für weitere Informationen: E-Mail: info@misrachi.at

Die Einladung als pdf-Datei zum Download (671 KB)


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Die Sprengung der Synagoge von Deutschkreutz

Protokoll eines Gesprächs mit Josef Presch, Kobersdorf, am 26. September 1990 Erstveröffentlichung! Josef Presch, geb. 1906 in Mattersburg, wurde 1926 Gemeindeschmied in Kobersdorf, wo er während der Hitlerzeit Präses der…

Protokoll eines Gesprächs mit Josef Presch, Kobersdorf, am 26. September 1990
Erstveröffentlichung!

Josef Presch, geb. 1906 in Mattersburg, wurde 1926 Gemeindeschmied in Kobersdorf, wo er während der Hitlerzeit Präses der katholischen Pfarre war. Als solchem wurde ihm wegen der Organisation der Auferstehungsprozession vom Kreisleiter sogar die Verschleppung nach Dachau angedroht. Da er wegen eines Magengeschwürs für den Militärdienst untauglich war, wurde er als Schmiedemeister der „Technischen Nothilfe“ zugeteilt. Dabei handelte es sich um eine Art Bautrupp, der am Wochenende bei der Wiederherstellung von Bachufern nach Unwettern und dergleichen eingesetzt wurde.

In Anführungszeichen gesetzt sind Originalzitate von Josef Presch.

Am Sonntag, dem 16. Februar 1941 morgens, wurden die 14 Männer der „Technischen Nothilfe“ von Kobersdorf abgeholt, um nach Oberpullendorf gebracht zu werden. Der Wagen bog aber in Richtung Lackenbach ab. Auf die Frage von Josef Presch, der für die Gruppe verantwortlich war, wurde ihnen vom Leiter des Vermessungsamtes, Ing. Koschat, mitgeteilt, dass an dem Tag die Tempel von Deutschkreutz und Lackenbach zu sprengen seien. Herr Presch war Sprengmeister, einen diesbezüglichen Blitzkurs hatte er zuvor, auf Anordnung der Behörde, in Berlin gemacht.

In Deutschkreutz hatte die Feuerwehr (wahrscheinlich Feuerwehrmänner aus der Umgebung) das Areal um die Synagoge bereits abgesperrt. Es gab ein Zuschauergedränge. Die Organisation lag offensichtlich in den Händen des Kreisleiters Kiss aus Markt St. Martin. Außer diesem waren der Bezirkshauptmann, General Siebert, der Chef der Technischen Nothilfe, und andere Parteifunktionäre, etwa zwölf an der Zahl, anwesend. Eigens für sie wurde eine Konstruktion aus Stahl aufgestellt, von der aus sie die Sprengung gut beobachten konnten und die ihnen Schutz bieten sollte; von dort aus sollte auch fotografiert werden. Herr Presch glaubte aber nicht, dass die Herren wirklich fotografieren konnten, da die Detonation schließlich stärker ausfiel als erwartet, mit riesiger Staubwolke, wobei Trümmer auch gegen die Beobachtungswarte der „Ehrengäste“ flogen.

Synagoge von Deutschkreutz

Den Berechnungen entsprechend, hatten sich die Männer der Technischen Nothilfe an die „Ladung“ der Synagoge gemacht. Da vorher die Rede von bis zu 2m dicken Mauern gewesen war, waren Sprenglöcher von innen und von außen gebohrt worden – 140 an der Zahl, obwohl im verbauten Gebiet nur 70 hätten gesetzt werden dürfen. Man wollte den massiven Bau so auf alle Fälle zu Fall bringen. Der Sprengeinsatzleiter nahm alle Verantwortung auf sich. Außerdem musste die elektrische Zündung ganz präzise ausgelöst werden; man riskierte einiges.

Es dauerte bis ca. 12.30h, bis alle Sprenglöcher geladen waren. Die Wucht der Sprengung war dann allerdings so gewaltig, dass es die ganze Synagoge an die 50m hoch in die Luft schleuderte, ehe sie im Schutt dalag, erinnert sich Josef Presch. Seiner Meinung nach waren die Absperrungen der Feuerwehr nicht ausreichend gewesen, denn ein Ziegelbruchstück – „wahrscheinlich aus einem gemauerten Bogen, denn sonst war die Synagoge aus Steinen gebaut“ – traf die 17-jährige Helene Artner tödlich. Sie hatte die Sprengung mit anderen vom offenen Gang der damaligen Hauptschule aus beobachtet.

Unmittelbar neben der Synagoge stand eine „alte Lehmhütte“, die man zunächst wegsprengen wollte, aber wegen des wenig massiven Mauerwerks stehen ließ, in der Hoffnung, sie würde durch die Synagogensprengung ohnehin zerstört werden. Das war dann allerdings nicht der Fall, sondern aus diesem Häuschen kam ein geschockter und staubübersäter Bub heraus, der die Sprengung unversehrt überlebt hatte.

Die Männer der Technischen Nothilfe bekamen nach der Tempelzerstörung in einem Gasthaus Essen. Danach teilte Herr Presch Herrn Ing. Koschat mit, dass er nach dem Tod „eines unschuldigen Mädchens keine Lust mehr habe“, bei der Sprengung der Lackenbacher Synagoge auch noch mitzuarbeiten. Daraufhin wurde er mit einem Wagen nach Kobersdorf gebracht. Er betont, er wisse bis heute nicht, ob damals die Synagoge von Lackenbach am selben Tag gesprengt wurde.

Herr Presch spricht von Malereien im Deutschkreutzer Tempel, Einrichtung sei keine mehr drinnen gewesen. Das Dach sei bloß an der Seite des Eingangs bereits abgenommen gewesen. Warum, könne er nicht sagen. Dass die Kobersdorfer Synagoge nicht gesprengt werden würde, habe Josef Presch schon vor der Sprengung in Deutschkreutz gewusst. Ing. Koschat habe ihm mitgeteilt, dass vor allem eine Gefährdung des gegenüberliegenden Schlosses, dessen hölzerne Dachschindeln Feuer hätten fangen können, nicht riskiert werden sollte. Außerdem standen dort auch zwei Wohnhäuser in unmittelbarer Nähe der Synagoge.

Mit bestem Dank an Mag. Manfred Fuchs, der 1985 als jüngster Bürgermeister des Burgenlandes zum Bürgermeister von Kobersdorf gewählt wurde und das Amt 21 Jahre ausübte.


1 Kommentar zu Die Sprengung der Synagoge von Deutschkreutz

Hebräischkurs 2012

Seit Mittwoch findet in unserem Haus wieder der schon traditionelle Hebräischkurs für Fortgeschrittene statt. Wir haben schon 2009 darüber berichtet, und auch heuer kamen – bereits zum siebenten Mal! –…

Seit Mittwoch findet in unserem Haus wieder der schon traditionelle Hebräischkurs für Fortgeschrittene statt. Wir haben schon 2009 darüber berichtet, und auch heuer kamen – bereits zum siebenten Mal! – Damen aus Österreich und Deutschland zum Hebräischstudium nach Eisenstadt!

Es darf wiederholt werden: Ich finde es ganz großartig und bewundernswert, dass die Teilnehmerinnen jährlich Zeit finden und sich die Zeit nehmen, um ihr Hebräisch aufzufrischen bzw. sich immer auf viel – für sie – Neues in der Sprache einlassen.
Für mich wiederum besteht die Herausforderung darin, möglichst viel Abwechslung zu bieten. Denn es soll in erster Linie Freude machen, es gibt keinen Leistungsdruck und doch staune ich jedes Jahr über das wirklich beachtliche Können der Teilnehmerinnen.

Heuer gab es aber eine Premiere: Wir machten heute – bei Traumwetter – einen Ausflug in drei der ehemaligen Sieben-Gemeinden des Burgenlandes: nach Kobersdorf, Lackenbach und Deutschkreutz, aber sehen Sie selbst:

  • Kobersdorf mit seinem wunderschönen jüdischen Waldfriedhof (1.200 Grabsteine)
  • Grabstein des Kohen Mordechai Hersch Brunner in Kobersdorf
  • Die Damen bei der Arbeit
  • Datum lesen und umrechnen
  • Grabstein mit Hammer als Symbol
  • In Lackenbach am größten jüdischen Friedhof des Burgenlandes mit über 1.700 Grabsteinen
  • Gedenktafel in Lackenbach
  • Die kurze Gasse, in der sich die kaum auffindbare Gedenktafel an die größte Synagoge des Burgenlandes befindet!
  • Herbstzeitlose am jüdischen Friedhof Kobersdorf


Übrigens: Es sind noch einige Plätze für den Anfängerkurs frei, der am 12. September beginnt!

3 Kommentare zu Hebräischkurs 2012

Urlaubstage im Burgenland

Eine historische Lese-Reise durch das jüdische Burgenland Im November/Dezember 1924 lud die Wochenzeitung „Jüdische Presse“ (Wien/Bratislava) ihre LeserInnen zu einer Lese-Reise durch das jüdische Burgenland: „Urlaubstage im Burgenland“ war die…

Eine historische Lese-Reise durch das jüdische Burgenland

Im November/Dezember 1924 lud die Wochenzeitung „Jüdische Presse“ (Wien/Bratislava) ihre LeserInnen zu einer Lese-Reise durch das jüdische Burgenland: „Urlaubstage im Burgenland“ war die 5-teilige Serie überschrieben; als Berichterstatter respektive Reiseführer fungierte Leopold Moses, 1888 in Mödling geborener Journalist und Historiker.

Moses wählte für seine Urlaubsfahrt – in den Text eingestreute Verweise auf jüdische Feiertage machen deutlich, dass es sich dabei (anders als das Erscheinungsdatum vermuten lässt) um eine Sommerreise gehandelt haben muss – eine grobe Nord-Süd-Route: Nach einem ersten Halt in Mattersburg/-dorf führte der Weg, via Sopron/Ödenburg, in die mittelburgenländischen Gemeinden Deutschkreutz, Lackenbach und Kobersdorf – Moses besuchte damit immerhin vier der sogenannten „Sieben-Gemeinden“, jener Gruppe jüdischer Landgemeinden, die sich unter dem Schutz der Fürsten Esterházy auf dem Gebiet des heutigen Burgenlands etablieren konnten (neben den bereits genannten zählten hierzu die Gemeinden Eisenstadt, Kittsee und Frauenkirchen).

Synagoge Lackenbach, ca. 1920

Synagoge Lackenbach, ca. 1920

Mit durchschnittlicher Reiseliteratur haben Moses‘ Burgenland-Reportagen allerdings wenig gemein: Moses‘ primäres Interesse gilt nicht etwa den (ohnehin raren) touristischen Sehenswürdigkeiten oder den Vergnügen der Sommerfrischler, sondern – passend zur orthodox-jüdischen Leserschaft der „Jüdischen Presse“ – dem religiösen Gemeindeleben, das er in seinen Alltäglichkeiten und Spezialitäten dokumentiert – „Urlaubstage“ der etwas anderen Art also …

Besonders angetan zeigt sich der Berichterstatter dabei von der lebendigen Frömmigkeit in den burgenländischen Gemeinden: von der Begeisterung etwa, die die religiösen Vollzüge begleitet; oder den frommen Geschäftsleuten der Gemeinde Mattersdorf (und ähnlich in Deutschkreutz), die inmitten ihres Tagewerks „jede freie Viertelstunde [benützen], um ein Stückchen zu ‚lernen'“ – ja, selbst

… spät am Abend noch empfängt mich bei der Heimkehr von einem Spaziergange durch die Felder das Geräusch von Stimmen, das von den im Wirtshause beim Weinglas ausruhenden Bauern herrührt, und gleich daneben im gleichmäßigen Tonfall des Talmudstudiums die wehmütig und doch auch so zuversichtlich zugleich klingende Stimme Jakobs [Jakob meint hier keine konkrete Person, sondern ist als Bild für das „Volk Israel“ zu nehmen]…

Jüdische Presse, 14.11.1924, 10. Jg., Nr. 46, S. 303ff.

So groß ist Moses‘ Begeisterung für dieses jüdische Leben des Burgenlands, dass er zu reichlich schmeichelhaften Analogiebildungen – nämlich mit den Städten Palästinas – greift: Lackenbach

… möchte ich … das Rechoivoth unter den Schewa Kehilloth [hebräischer Name der oben angesprochenen burgenländischen „Sieben-Gemeinden“] nennen. Und dann wäre etwa, um im Bilde zu bleiben, Eisenstadt das Jerusalem, Mattersdorf das Zabueh, Zelem [hebräischer Name für Deutschkreutz] das Safed und Kobersdorf das Tiberias des Burgenlandes.

Jüdische Presse, 28.11.1924, 10. Jg., Nr. 48, S. 315.

Im Einzelnen freilich ist Moses durchgehend um realistische Beschreibungen des burgenländisch-jüdischen Lebens bemüht – entsprechend werden etwa auch allfällige religiöse Auflösungserscheinungen vermerkt, wie in der folgenden hübschen Anekdote zur Fußballbegeisterung in der jüdischen Gemeinde Lackenbach:

Am vergangenen Tischa b’Aw [Trauertag in Erinnerung an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, an dem Vergnügen verschiedenster Art gemieden werden], da ein Fußballmatch der vereinigten jüdischen und deutschen Fußballspieler Lackenbachs gegen Ödenburger Gäste, das man aus Sporthöflichkeit nicht verschieben zu können meinte, stattfinden sollte, wusste sich der strengfromme und durch seine Schriften sehr bekannte Rabbiner R. Jehuda Kraus nicht anders zu helfen, als indem er den Fußball durch den Schammes [Synagogendiener] beschlagnahmen ließ. Freilich ahnte der gute Mann … nicht, dass die Jugend vorsichtig genug sein würde, noch einen zweiten Ball zu besitzen, mit dem auch das Spiel ausgetragen wurde …

Jüdische Presse, 28.11.1924, 10. Jg., Nr. 48, S. 316.

Moses‘ Fazit ist dann aber doch ein positives, zumal wenn er – zum Abschluss der Serie – auf das Verhältnis der burgenländischen Juden zur nicht-jüdischen Bevölkerung zu sprechen kommt:

… seit Jahrhunderten sind die Juden dieser Gemeinden …, gleich der kaum viel früher eingewanderten grundehrlichen und braven deutschen Bauernbevölkerung, mit den Geschicken dieses schönen Ländchens verknüpft. Bei der nichtjüdischen Bevölkerung des Burgenlandes herrscht … Verständnis für die Eigenart des jüdischen Bevölkerungsteiles, da hier die Juden diese Eigenart auch viel freier zur Schau tragen und stolzer betonen als sonst irgendwo in Mitteleuropa. (…) Wenn im Monat Elul [August/September] im Burgenlande der Schofar [Widderhorn, das u.a. im Elul geblasen wird] ertönt, dann sagen die Bauern, dass die Juden den Herbst einblasen, wenn in Zeiten der Dürre alle Bittprozessionen nicht helfen wollen, dann kommen sie zu den Juden und fordern sie auf, um Regen zu beten, und in Mattersdorf ist von den zwei dort bestehenden Ortsfeuerwehren die jüdische auch bei den Nichtjuden als die bessere anerkannt.
Die Juden des Burgenlandes haben aber auch immer eine gewisse Rolle im europäischen Judentum gespielt und auch jetzt … sind sie uns mehr als bloß ihrer numerischen Bedeutung entspricht.

Jüdische Presse, 19.12.1924, 10. Jg., Nr. 51/52, S. 328f.

Leopold Moses – das sei zum Ende hin erwähnt – war in späteren Jahren Archivar der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde; er wurde (lt. Informationen der Holocaust-Gedenkstätte/-Forschungsstelle Yad Vashem) im Dezember 1943 aus Wien nach Auschwitz deportiert und ebendort ums Leben gebracht.

Moses Reisereportagen aus dem Burgenland finden sich im Volltext online auf Compact Memory (die obigen Zitate wurden ebendort entnommen).

Als Beilage zu unserer heutigen Melange empfehlen wir – was sonst: Urlaubstage im Burgenland, vielleicht sogar auf den Spuren der jüdischen Gemeinden … Alternativ – für diejenigen, deren Zeit knapper bemessen ist – ist auch ein sommerlicher Tagesausflug jedenfalls empfehlenswert … ;) Falls es Sie dabei – anders als Leopold Moses – auch nach Eisenstadt verschlagen sollte, würden wir uns natürlich über Ihren Besuch im Jüdischen Museum freuen bzw. laden Sie herzlich ein zur Begehung unserer aktuellen Outdoor-Ausstellung „Ver(BE)gangen“, die durch Geschichte und Gegenwart des jüdischen Eisenstadt führt.


3 Kommentare zu Urlaubstage im Burgenland

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