Koschere Melange

Das Blog des Österreichischen Jüdischen Museums - ISSN 2410-6380

Schlagwort: friedhof

Hanff Leopold – 18. Jänner 1857

Leopold (Jehuda Elias) Hanff, 25. Tevet 617 = (Mittwoch, 21. Jänner 1857) bzw. 18. Jänner 1857 laut deutschsprachiger Grabinschrift Der Grabstein befindet sich am jüdischen Friedhof Bozen/Bolzano in Südtirol. Die…

Leopold (Jehuda Elias) Hanff, 25. Tevet 617 = (Mittwoch, 21. Jänner 1857) bzw. 18. Jänner 1857 laut deutschsprachiger Grabinschrift

Der Grabstein befindet sich am jüdischen Friedhof Bozen/Bolzano in Südtirol.



Die hebräische Grabinschrift

Inschrift Leopold Hanff: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[1] H(ier liegt) b(egraben) פ“נ
[2] der unverheiratete Mann Jehuda Elias הב’ יהודא עלי’
[3] Hanff האנף
[4] aus Berlin. מבערלין
[5] Geboren a(m Vorabend) d(es) N(eumondtages) des Monats Av 579, נולד ע“רח אב תקע“ט
[6] gestorben in der Stadt Meran נפטר בעיר מעראן
[7] am 25. Tevet 617 n(ach der) k(leinen) Z(eitrechnung). כה טבת תריז לפ“ק
[8] Noch in deiner Blüte wurdest du gepflückt, נקטפת עודך באבך
[9] deine Eltern trauern um dich. עליך האבל נפש הוריך
[10] Nach deinem Namen und nur nach dir allein ist unser Verlangen! לשמך ולובדך תאות נפשנו
[11] Eingraviert bist du in unser Herz alle Tage unseres Lebens. חרות אתה על לב כל ימי חיינו
[12] S(eine) S(eele) m(öge eingebunden sein) i(m Bund) d(es Lebens). תנצבה

Die deutsche Grabinschrift (Rückseite)

Inschrift Leopold Hanff R: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[1] Hier ruht in Gott
[2] Leopold Hanff
[3] aus Berlin,
[4] geboren am 30. Juli 1829,
[5] gestorben in Meran am 18. Jänner
[6] 1857.
[7] In Jugendblüthe bist Du hingeschieden
[8] Stets unvergessen auch in heiligem Frieden.


Anmerkung

Zeile 8: Vgl. Ijob 8,12 עֹדֶ֣נּוּ בְ֭אִבּוֹ לֹ֣א יִקָּטֵ֑ף „In seiner Blüte noch nicht abgerissen…“.


Biografische Notizen

Leopold (Jehuda Elias) Hanff, geb. in Berlin oder zumindest aus Berlin, geboren laut hebräischer Grabinschrift am 29. Tammus (= Erev Rosch Chodesch Av), 22. Juli 1819 und laut deutscher Grabinschrift auf der Rückseite des Grabsteines am 30. Juli 1829 = 28. Tamus 589. Wir haben beim Geburtsdatum also eine Differenz von 10 Jahren. Gestorben in Meran laut hebräischer Grabinschrift am 25. Tevet 617 = Mittwoch, 21. Jänner 1857 und laut deutscher Grabinschrift am 18. Jänner 1852 = Sonntag, 22. Tevet 617. Beim Sterbedatum eine Differenz von 3 Tagen. Leopold Hanff wurde also nicht einmal 38 Jahre alt und war unverheiratet.



Beitragsbild: Totenhalle am jüdischen Friedhof in Bozen/Bolzano, 1933 nach einem Projekt des Architekten Erich Pattis errichtet. Mehr Informationen über den jüdischen Friedhof Bozen, siehe Marx Markus, 14. April 1804.


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(Marx Markus) Mordechai bar Gerson – 14. April 1804

Markus (Mordechai bar Gerson), Sohn des Gerson (Marx), 03. Ijjar 664 = (Schabbat, 14. April 1804) Der Grabstein befindet sich am jüdischen Friedhof Bozen/Bolzano in Südtirol und ist der älteste…

Markus (Mordechai bar Gerson), Sohn des Gerson (Marx), 03. Ijjar 664 = (Schabbat, 14. April 1804)

Der Grabstein befindet sich am jüdischen Friedhof Bozen/Bolzano in Südtirol und ist der älteste jüdische Grabstein in Bozen, wo der erste jüdische Friedhof bereits im Jahr 1431 belegt ist. 1614 erwarb der Bozener Kaufmann Gerson zwei Gründstücke unterhalb der Haselburg, die sich am Gelände des heutigen Friedhofes in Oberau befinden. Mehr Informationen sowie einen Lageplan des Friedhofes finden Sie auf der Website der Stadt Bozen und mehr Bilder vom Friedhof, der 1933 errichteten Totenhalle sowie vom Denkmal am Friedhof finden Sie auf unserer Facebook-Site.


Mordechai bar Gerson (Marx Markus) - 03. Ijjar 564 = Schabbat, 14. April 1804

Mordechai bar Gerson (Marx Markus) – 03. Ijjar 564 = Schabbat, 14. April 1804



Die Grabinschrift

Inschrift Mordechai bar Gerson 1804: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[1] H(ier ist) g(eborgen) פ“ט
[2] ein alter Ma(nn), satt an Tagen. Seine Handlungen gescha(hen) אי’ זקן ושבע ימים כל מעשיהו הי’
[3] in Annehmlichkeit, Liebeswerke vollzog er an בנעימים גמילת חסד עשה עם
[4] Lebenden und Toten. Er sättigte die Hungernden, החיים והמתים משביע לרעבים
[5] die Fremden und die Nahen. D(er angesehene) M(ann), der Einflussreiche, e(hrbare) H(err) לרחוקים ולקרובים הר הק כה
[6] Mordechai, Sohn des Gerson. Er verstarb i(n gutem) N(amen) a(m heiligen) Sch(abbat), מרדכי בר גרשון נפטר בשט שק
[7] und wurde begraben am Tag 1 (= Sonntag), 4. Ijjar 564 n(ach der kleinen Zeitrechnung). ונקבר ביום א“ ד“ אייר תקס“ד ל“
[8] S(eine) S(eele) m(öge eingebunden sein) i(m Bund) d(es Lebens). תנצבה


Anmerkungen

Zeile 3: Genesis 35,29; Ijob 42,17 ושבע ימים; ähnlich 1 Chronik 23,1.

Zeile 4: Aus dem Segensspruch nach dem Essen, s. zB Shulchan Arukh, Orach Chayim 187:1 יש אומרים ברוך משביע לרעב.

Zeile 5: הההקכה in der Inschrift ohne Wortabstände geschrieben.


Biografische Notizen

Die Quelle für alle biografischen Angaben ist: hohenemsgenealogie.at. Dort auch die Literarturreferenz.

Markus (Mordechai bar Gerson), geb. in Hessen, Deutschland, Postmeister, Kaufmann, nach Bozen emigriert vor 1771, gest. 03. Ijjar 664 = Schabbat, 14. April 1804, begraben Tag 1, 04. Ijjar 664 = Sonntag, 15. April 1804 am jüdischen Friedhof Bozen, Via Maso della Pieve / Pfarrhofstraße 7.
Das Todesdatum wurde aufgrund der hebräischen Grabinschrift, die eindeutig ist, korrigiert (siehe oben Zeile 6 und 7). Bisher publiziert wurde der 15. April 1804, siehe Hohenems. Im Folder zu einer Ausstellung auf Schloss Runkelstein finden wir nur das Sterbejahr 1804, kein Monats- oder Tagesdatum.
Am Rande angemerkt sei noch, dass wir in der hebräischen Inschrift auch „Mordechai bar Gerson“ und nicht „Mordechai ben Gerson“ lesen (wenngleich es in der Übersetzung keinen Unterschied macht).

Vater: Gerson (Marx)

Ehefrau: Lube (killa) Einstein
, gest. 04. April 1804 in Bozen

4 Kinder: Gerson Marx, Rosa (Gerson), Henriette (Helene) Marx und Maria Anna Marx, siehe Hohenems.

Nota bene: Die unter „Biografische Notizen“ hier publizierten biografischen Daten wurden von den angegebenen Quellen ungeprüft übernommen, weil der Schwerpunkt dieses Beitrages auf der Transkription und Übersetzung der hebräischen Grabinschrift, und damit auch letztlich auf der Korrektur des Sterbedatums liegt, aber nicht auf den genealogischen Daten.


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Der Herr segne und behüte dich. Von Mr. Spock bis zur Schlange der Ewigkeit I

Symbole auf jüdischen Grabsteinen Prolog Der Artikeltitel war der Titel meines kleinen Vortrages in der Langen Nacht der Museen gestern, am 01. Oktober 2022. Die Idee zum Thema kam eigentlich…

Symbole auf jüdischen Grabsteinen

Prolog

Der Artikeltitel war der Titel meines kleinen Vortrages in der Langen Nacht der Museen gestern, am 01. Oktober 2022.

Die Idee zum Thema kam eigentlich zufällig, als ich am jüdischen Friedhof Kobersdorf vor einigen Monaten ein Symbol aktiv wahrnahm, das ich zuvor noch nie auf einem anderen jüdischen Friedhof des Burgenlandes gesehen hatte: Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, der Ouroboros, der auch als „Schlange der Ewigkeit“ bekannt ist. Nun galt es einerseits zu verifizieren, ob diese spezielle Form der Schlange nur auf Grabsteinen am jüdischen Friedhof Kobersdorf zu finden ist oder auch auf anderen jüdischen Friedhöfen. Ich darf es vorwegnehmen, so viel sei schon verraten: ja, den Ouroboros gibt es nicht nur in Kobersdorf, nicht aber in Eisenstadt!

Bei der Suche stieß ich allerdings zu meiner großen Verwunderung auf viele andere, vielleicht nicht ganz so spektakuläre, aber sehr schöne Symbole, besonders auf dem älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt: Tiere, Blumen, Namenssymbole usw.

Mit diesem Artikel soll eine kleine Serie beginnen, bei der die Symbole auf jüdischen Grabsteinen, vor allem auf jüdischen Friedhöfen im Burgenland, nicht nur vorgestellt, sondern auf ihre jüdische Tradition hin untersucht werden.

Aber wir beginnen heute sozusagen mit „Adam und Eva“, mit den wohl schon bekannten segnenden Priesterhänden.

Quasi ein PS: Ich gestehe, mich bisher noch nie mit den Symbolen (außer den gängigen genuin jüdischen) intensiver beschäftigt zu haben, was bis zu einem gewissen Grad auch damit zusammenhängt, dass ‒ unterm Strich ‒ einerseits der Befund auf beiden jüdischen Friedhöfen in Eisenstadt relativ dünn ist und andererseits viele der Symbole auf den Grabsteinen heute ohne intensive vorsichtige Bearbeitung praktisch so gut wie nicht zu sehen oder zu erkennen sind.


Segnende Priesterhände

Beim Segen erhebt der Priester seine Hände mit der charakteristischen Fingerhaltung, bei der kleiner Finger und Ringfinger sowie der Daumen von Zeige- und Mittelfinger abgespreizt werden. Damit soll der hebräische Buchstabe ש „SCHIN“ assoziiert werden, der Anfangsbuchstabe des Wortes אֵ֣ל שַׁדַּ֔י „(El) Schaddai“ (der Allmächtige).

Mini-Exkurs

Der Priestersegen heißt Hebräisch „Birkat Kohanim“ oder „Nesijat Kapajim“ (wörtl: „Heben der Hände“) und ist unter aschkenasischen Juden auch als „Duchanen“ (s. u. das Video mit Leonard Nimoy) bekannt (s. auch The Mitzvah of „Duchening“ – Birchas Kohanim„). („Duchan“ ist das aramäische Wort für die Plattform vor dem Toraschrein, siehe etwa babylonischer Talmud, Traktat Schabbat 118b „וְאָמַר רַבִּי יוֹסֵי: מִיָּמַי לֹא עָבַרְתִּי עַל דִּבְרֵי חֲבֵרַי. יוֹדֵעַ אֲנִי בְּעַצְמִי שֶׁאֵינִי כֹּהֵן, אִם אוֹמְרִים לִי חֲבֵירַי: עֲלֵה לַדּוּכָן — אֲנִי עוֹלֶה. „Ferner sagte R. Jose : Nie im Leben habe ich die Worte meiner Genossen übertreten. Ich selber weiß, dass ich kein Priester bin, trotzdem würde ich die Plattform besteigen, wenn meine Genossen mich dazu auffordern würden.“)


Die segnenden Priesterhände stehen für die Abstammung aus dem aaronidischen Priestergeschlecht. Die Priester, hebräisch Kohanim (Einzahl: Kohen), waren im Tempel für die Opferdarbringung und für das Sprechen des Segens (Priestersegen / Aaronitischer Segen, 4. Buch Mose (Numeri) 6,22-26) zuständig:

Inschrift Aaronitischer Segen: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[Num 6,22] Der HERR sprach zu Mose: וַיְדַבֵּ֥ר יְהֹוָ֖ה אֶל־מֹשֶׁ֥ה לֵּאמֹֽר׃
[Num 6,23] Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: דַּבֵּ֤ר אֶֽל־אַהֲרֹן֙ וְאֶל־בָּנָ֣יו לֵאמֹ֔ר כֹּ֥ה תְבָרְכ֖וּ אֶת־בְּנֵ֣י יִשְׂרָאֵ֑ל אָמ֖וֹר לָהֶֽם׃ {ס}
[Num 6,24] Der HERR segne dich und behüte dich. יְבָרֶכְךָ֥ יְהֹוָ֖ה וְיִשְׁמְרֶֽךָ׃ {ס}
[Num 6,25] Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. יָאֵ֨ר יְהֹוָ֧ה ׀ פָּנָ֛יו אֵלֶ֖יךָ וִֽיחֻנֶּֽךָּ׃ {ס}
[Num 6,26] Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden. יִשָּׂ֨א יְהֹוָ֤ה ׀ פָּנָיו֙ אֵלֶ֔יךָ וְיָשֵׂ֥ם לְךָ֖ שָׁלֽוֹם׃ {ס}


Der 2016 verstorbene Singer-Songwriter, Dichter und Maler Leonard Cohen wurde als Kohen geboren und 1996 zum buddhistischen Mönch ordiniert. Am 24. September 2009, am Ende seines Konzerts in Tel Aviv, spricht er den Priestersegen:


In der hebräischen Bibel wird das dritte Buch Mose (Levitikus; hebr.: Wa-jikra) auch als „Torat haKohanim“ (Weisung für die Priester) bezeichnet, weil es in diesem Buch vor allem um die Arbeit der Kohanim im Stiftszelt und später im Jerusalemer Tempel geht. Die Kohanim kommen aus dem Stamm Levi, sind also eine Untergruppe der Leviten.
Aaron, der Bruder des Mose, wurde von diesem zum ersten „Großen Kohen“ geweiht, alle späteren Kohanim stammen daher von Aaron ab.

Da die Abstammung über die männliche Linie vererbt wird, findet man das Symbol vor allem auf Grabsteinen von männlichen Angehörigen aus dem Priestergeschlecht, meist mit dem Namen, später dem Beinamen „Kohen“, „Kohn“, „Kahn“, „KaZ“ usw. Siehe zum Beispiel Samuel Cohen, gestorben 1791 und am älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt begraben.
כ“ץ „KaZ“ ist eine Abkürzung für „Kohen Zedek“ „gerechter Priester“ wie bei Rabbiner Karl Klein (gestorben 1930 und begraben am jüngeren jüdischen Friedhof von Eisenstadt), hebräisch: Chaim Akiba KaZ (oder Ka’tz), Zeile 6.

Der Kohen darf sich nicht rituell verunreinigen. So ist es ihm verboten, mit einem toten Körper in Berührung zu kommen oder sich auch nur unter dem selben Dach aufzuhalten, unter dem sich auch ein Leichnam befindet. Der Kohen darf keinen Friedhof betreten, außer er achtet im Freien auf die Distanz von 192cm zum Grab oder zum Sarg. Kohanim werden häufig auch am Rand des jüdischen Friedhofes oder in einer Ecke des Friedhofes begraben, damit sie sich beim Besuch eines Grabes eines oder einer Verwandten nicht verunreinigen. Allerdings muss der Kohen am Begräbnis der nächsten Verwandten (Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Brüder väterlicherseits und nie verheirateten Schwestern väterlicherseits) teilnehmen und sich dabei verunreinigen.

Kohanim-Gräber an der Mauer, jüdischer Friedhof Lackenbach

Kohanim-Gräber an der Mauer, jüdischer Friedhof Lackenbach. Selbstverständlich war vor 1938 die Friedhofsmauer nicht so hoch!


Wenn aus der Tora gelesen wird (also am Schabbat, an Fastentagen oder am Montag und Donnerstag während des Morgengebetes…), werden je nach Anlass fünf, sechs oder sieben Personen zur Tora gerufen. Der erste Aufruf (die erste Alija) gilt immer einem Kohen, der zweite einem Levi. Wenn kein Kohen anwesend ist, wird er durch eine andere Person ersetzt, ist kein Levi anwesend, dann soll er durch den zuvor aufgerufenen Kohen ersetzt werden.

Viele weitere Regelungen, die den Kohen vor allem in Bezug auf die kultische Reinheit betreffen, siehe etwa Die Reinheit des Kohens„.

Dazu passt eine Geschichte, die uns vom berühmten, wundertätigen und langjährigen Rabbiner der jüdischen Gemeinde Deutschkreutz übermittelt ist: Rabbi Menachem Wannfried KaZ-Prossnitz (geb. 1795, Rabbiner in Deutschkreutz von 1840 bis zu seinem Tod 1891) hatte beim großen Chatam Sofer in Pressburg studiert und galt als dessen gelehrigster Schüler. So wurde er für seine Treue von Chatam Sofer sogar in dessen privaten Studierstube in die Kabbala, die jüdische Mystik, eingeweiht. Als Chatam Sofer am Sterbebett lag, besuchte ihn Rabbi Menachem Prossnitz und wurde vom Grauen gepackt, als er die Hand seines Lehrers ergriff, die sich wie aus Stein anfühlte. Chatam Sofer freute sich über den Besuch und deutete dann dem Rabbi Menachem das Zimmer zu verlassen, denn „ich sterbe“. Rabbi Menachem Prossnitz war ein Kohen und durfte sich daher nicht unter einem Dach mit einem Toten befinden [1].

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass sich am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt bei 1.100 Grabsteinen nur 8 Grabsteine mit dem Symbol der segnenden Hände befinden.
Am jüngeren jüdischen Friedhof findet sich kein einziges Symbol der segnenden Hände, begraben sind, soviel wir wissen, nur der o.g. Rabbiner Karl Klein KaZ (ohne Symbol) und eine Frau, Rachel Kohn (verheiratet mit einem Kohen) und mit dem Symbol der Trauerweide am Grabstein.

Eine alte, v.a. mündlich überlieferte Geschichte aus dem ehemaligen jüdischen Viertel von Eisenstadt erklärt uns, dass sich vor allem in der neueren Zeit Kohanim nicht in Eisenstadt ansiedeln wollten. Weil sie nicht wussten, wo sich der jüdische Friedhof des mittelalterlichen jüdischen Viertels von Eisenstadt befunden hat. Mit der Nichtansiedelung wollten sie vermeiden, irrtümlich sozusagen Friedhofsgelände zu betreten.

Am Rande nur angemerkt sei, dass der Priestersegen in der Fernsehserie „Star Trek“ auch als vulkanischer Gruß bekannt ist. Wie es dazu kam, also die jüdischen Hintergründe, erklärt Leonard Nimoy (Mr. Spock), der selbst zwar in eine orthodoxe jüdische Familie geboren wurde, aber kein Kohen war:


In wenigen Tagen, zu Sukkot (Laubhüttenfest, heuer ab 9. Oktober Abend), wird der Priestersegen in Israel von hunderten Kohanim gesprochen und über Lautsprecher an die Westmauer in Jerusalem übertragen (genauso zu Pesach; siehe etwa den Birkat Kohanim Sukkot 2015).



[1] Siehe v.a. Shlomo Spitzer, Die jüdische Gemeinde von Deutschkreutz, Wien 1995 [Zurück zum Text (1)]


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Tag des Friedhofs 2021

Gestern und heute ist der #TagDesFriedhofs. In Eisenstadt gibt es zwei jüdische Friedhöfe (in unmittelbarer Umgebung unseres jüdischen Museums) sowie ein Mausoleum. Beide Friedhöfe können besucht werden, den Schlüssel erhalten…

Gestern und heute ist der #TagDesFriedhofs.

In Eisenstadt gibt es zwei jüdische Friedhöfe (in unmittelbarer Umgebung unseres jüdischen Museums) sowie ein Mausoleum. Beide Friedhöfe können besucht werden, den Schlüssel erhalten Sie sowohl in unserem Museum als auch beim Portier des Krankenhauses (gleich neben den Friedhöfen). Das Wolf-Mausoleum befindet sich einige Meter oberhalb des Gymnasiums Wolfgarten und ist mit dem Auto in wenigen Minuten, zu Fuß in etwa 20 Minuten (vom Museum aus) erreichbar.

Der ältere jüdische Friedhof darf wohl als einer der bedeutendsten jüdischen Friedhöfe in Europa bezeichnet werden. Über 1.100 Grabsteine, der älteste aus dem Jahr 1679, ausschließlich hebräische Grabinschriften. Auf dem Friedhof befinden sich u.a. die Gräber von MaHaRaM A“SCH, Rabbi Meir Eisenstadt, gest. 1744, dem ersten offiziellen Rabbiner der jüdischen Gemeinde Eisenstadt, sowie die Gräber der Eltern des berühmten Rabbi Akiba Eger (der heute, am 13. Tischre, seinen Jahrzeittag hat!): Mose Güns-Schlesinger und Gütel, Tochter von Akiba Eger dem Älteren… Schon 1922 wurde dieser Friedhof vollständig dokumentiert, seit 2015 ist jeder Grabstein mit Foto und Inschrift auch online, jeder Grabstein hat einen QR-Code mit Namen und Sterbedatum, wodurch alle BesucherInnen die Möglichkeit haben, ein bestimmtes Grab auch tatsächlich zu finden.

Nur wenige Meter entfernt liegt der jüngere jüdische Friedhof, der von 1875 an belegt wurde. Die etwa 300 Grabsteine haben ebenfalls fast ausschließlich hebräische Grabinschriften. 1992 wurde der Friedhof geschändet, der Täter im Herbst 1995 gefasst. Auch dieser Friedhof wurde von uns schon 1995 dokumentiert, seit 2017 ist jeder Grabstein mit Foto, Grabinschrift, Übersetzung, Anmerkungen und biografischen Ergänzungen online und vor Ort ebenfalls mit QR-Code versehen.

Das Mausoleum der Familie Wolf am Fuß des Leithagebirges im ehemaligen Obst-und Gemüsegarten der Familie Wolf beherbergt eine Gedenktafel sowie die Urnen von 12 Nachkommen von Leopold Wolf und seiner Frau Ottilie Laschober. Ottilie war katholisch, alle Kinder erhielten die Religion ihres Vaters, traten aber im Laufe ihres Lebens aus dem Judentum aus. Die Kinder, Schwiegerkinder und Enkeln von Leopold und Ottilie Wolf wurden aus der ganzen Welt zu ihrer Mutter nach Eisenstadt gebracht (bis 2001!).


Danke an die Kolleginnen/Kollegen vom Jüdischen Museum Frankfurt / Museum Judengasse https://www.facebook.com/juedischesmuseumffm fürs Erinnern an den #TagdesFriedhofs.


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Im fernen wirren Ungarn

Diese Woche hatten wir einen ganz besonderen Besuch: Ruth Ellen Gruber, die Koordinatorin von Jewish-Heritage Europe kam nach Eisenstadt.

Diese Woche hatten wir einen ganz besonderen Besuch: Ruth Ellen Gruber, die Koordinatorin von Jewish-Heritage Europe kam nach Eisenstadt.

Am Donnerstag fuhren wir über den jüdischen Friedhof Wiener Neustadt sowie den älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt und unser jüdisches Museum nach Köszeg (deutsch: Güns) in Ungarn, wo die Synagoge derzeit aufwändig renoviert wird. Da sie daher auch nicht betreten werden darf, haben wir leider nur wenige Fotos. 2022 ist die Fertigstellung geplant, man darf gespannt sein!

Aber der Reihe nach: In Wiener Neustadt waren es vor allem die am jüdischen Friedhof sehr schön präsentierten mittelalterlichen Grabsteine, die Mrs. Gruber faszinierten. Besonders erfreulich finde ich auch die Initiative der Stadt Wiener Neustadt, dass jeder dieser Grabsteine nun auch ein Täfelchen mit der Übersetzung und einen QR-Code zu meiner vollständigen Bearbeitung hat. Auch am jüdischen Friedhof in Eisenstadt konnte Mrs. Gruber unsere QR-Codes das erste Mal sehen und „testen“.

Gebaut wurde die Synagoge von Köszeg aus Mitteln einer Stiftung von Philipp Baron Schey von Koromla (geb. 20. September 1797 in Köszeg, gestorben am 29. Siwan 5641 = 26. Juni 1881 in Baden bei Wien). Philipp Schey wurde als erster ungarischer Jude geadelt und ist auf dem jüdischen Friedhof in Lackenbach begraben.

Der Film Synagogue for Sale“ von Zsuzsanna Geller-Varga zeigt die Synagoge im Jahr 2007.

Unter den Gesetzestafeln auf der Vorderseite der Synagoge erinnert auch eine Inschrift an Philipp Schey. Die jüdische Jahreszahl 5620 ist umgerechnet das Jahr 1859/60. Dieses Jahr wurde bisher immer als Gründungsjahr angenommen, jedoch ergaben neuere Forschungen, dass bereits 1856, also noch vor der Nobilitierung von Philipp Schey, mit dem Bau der Synagoge begonnen wurde.

Daher stoppten wir auf der Rückfahrt trotz einsetzenden Regens natürlich noch auf dem jüdischen Friedhof von Lackenbach. Wenn auch das Mausoleum von Baron Philipp Schey der Hauptgrund war, darf der größte jüdische Friedhof des Burgenlandes mit 1770 Gräbern nicht verlassen werden, ohne zumindest noch die Gräber von zwei der bedeutenden Rabbiner Lackenbachs zu besuchen:

Rabbi Salman Salomon Lipschütz, gestorben 1808 in Lackenbach. Seine Gegner beschrieben ihn 1765, als er vom Grafen zum Nachfolger seines Vaters als Rabbiner in Neuwied (Rheinland-Pfalz, Deutschland) ernannt wurde, als einen „äußerst aufgeblasenen und zanksüchtigen Mann„, der soeben seiner Frau im Kindbett den Scheidebrief gereicht und sie vertrieben habe. Auch wurde er als geheimer Sabbatianer bezeichnet und es wurde ihm sogar die Befähigung zum Rabbiner abgesprochen. Wie auch immer, gegen Ende seines Lebens war er Rabbiner in Lackenbach, sein Sohn Israel Lipschtüz (1782-1826) wurde Rabbiner im benachbarten Deutschkreutz, seine Tochter Jentl war die Mutter des Mattersdorfer Rabbinatsverwesers Rev Aron Singer.

Rabbi Schalom Salomon Ullmann, genannt „Rabbi Schalom, der Scharfsinnige“, geb. 27. Februar 1755 in Fürth, gest. 06. März 1825 in Lackenbach, Sohn des Gemeindevorstehers Israel-Isserle Ullmann aus Fürth. 1799 wurde Ullmann Rabbiner in Nagyatád, Ungarn, kurz darauf Nachfolger von David Deutsch als Rabbiner in Frauenkirchen. Ab 1809 war er Rabbiner in Lackenbach, wo er als „Chassid“ galt.

Siehe „Das Biographische Handbuch der Rabbiner“.

Die Tafel auf der Rückseite des Grabsteines gibt es erst wenige Monate.

Beide Gräber, besonders aber jenes von Rabbi Ullmann, sind alljährlich das Ziel vieler orthodoxer Pilger.


Ich bedanke mich sehr herzlich (u.a.) bei Frau Eszter Sterk von der jüdischen Gemeinde Szombathely und bei Frau Dr. Edit Szántóné Balász und Herrn Attila Pók vom Institute of Advanced Studies Köszeg für ihre so freundliche Hilfe bei der Organisation und vor Ort in Köszeg.



Der Beitragstitel ist ein Zitat aus einem Brief von Rabbiner Dr. Asriel Hildesheimer, der diese Worte benützte, als er einem Freund in Düsseldorf von seiner Berufung als Rabbiner nach Eisenstadt berichtete.


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Meine Kindheit in der Judengasse in Eisenstadt

Diesen Artikel schrieb Professor Meir Ayali, seligen Andenkens, im Jahr 1988 und wurde von mir aus dem Hebräischen übersetzt. Meir Eugen Ayali wurde am 10. Juli 1913 als Sohn von…

Diesen Artikel schrieb Professor Meir Ayali, seligen Andenkens, im Jahr 1988 und wurde von mir aus dem Hebräischen übersetzt. Meir Eugen Ayali wurde am 10. Juli 1913 als Sohn von Jehuda Hirschler und Esther Kohn im Wertheimerhaus in Eisenstadt, in dem sich heute das jüdische Museum befindet, geboren. Er starb am 01. Mai 2001 in Israel.
Ein berührender Artikel über seine Kindheit in einer ausgelöschten Welt.

Schabbatkette jüdisches Viertel Eisenstadt

Insgesamt standen 31 Häuser in der Judengasse, die sich wie ein umgekehrtes Dalet (ד = vierter Buchstabe im hebräischen Alphabet) erstreckte: beginnend bei den beiden Säulen mit der Kette im Osten bis zu den Häusern im Westen, die an das Spital der ›Barmherzigen Brüder‹ grenzten und von hier verlief sie in Richtung Norden bis zum Tor des alten Friedhofs. An der Südwestecke, beim Ausgang auf die ›Straße‹, befand sich ein Gittertor, das, ähnlich den dicken und schweren Eisenketten im Osten, auch an den Abenden vor Schabbattagen und Festen bis zum Ausgang des Schabbats bzw. des Festes für jeglichen Fahrzeugverkehr geschlossen wurde. Wie in früheren Jahren war in den Tagen meiner Kindheit und Jugend die autonome Gemeindestruktur der Gasse mit dem Namen Unterberg-Eisenstadt noch beibehalten und wir hatten einen eigenen Bürgermeister. Sogar als Kinder waren wir sehr stolz auf dieses Recht, das ein zusätzliches Flair auf den besonderen Charakter des Judenviertels und auf die Lebensatmosphäre in ihm ausübte.

31 Häuser: auf dem Tor eines jeden war eine kleine Tafel aus Holz oder Blech angebracht, auf die der Schames (Synagogendiener) zweimal am Tag dreimal schlug ‒ ta, ta, ta ‒ um bekannt zu geben, dass die Zeit des Morgen-, Mittag- oder Abendgebetes gekommen ist. Mit großer Pünktlichkeit, fünf Minuten vor dem Beginn des Gebetes in der Synagoge, schlug Herr Feldmann mit einem dicken Holzhammer auf das Tor Nr. 1, das Haus des Gabriel, das neben der Kette stand, und beendete binnen fünf Minuten die Runde beim Haus Nr. 31, das gegenüber (vom Haus Nr. 1), ebenfalls neben der Kette, war. In diesem Haus, Nr. 31, das heute ›Wertheimerhaus‹ genannt wird (mit Recht, denn es wurde von Rabbi Samson Wertheimer erbaut), und das im Besitz der Familie Wolf war, wohnten wir. Das Tor des Hauses ging auf die Judengasse, unsere Fenster schauten nach Osten; von ihnen blickten wir auf die Türme des Schlosses Esterházy, zum Hofgarten und auch auf die Abhänge des nahe gelegenen Waldes. Noch klingt in meinen Ohren das Zwitschern der Lerchen, das vom Park und vom Wald her den Morgen der Sommertage durchbrach, und ich erinnere mich an die sorglosen und glücklichen Tage meiner Kindheit in diesen Jahren, als auch die Erwachsenen nicht ahnen konnten, welche Vipern in Menschengestalt in viel späteren Jahren von allen Seiten hervorbrechen würden. Die Häuser der Gasse waren klein, die meisten von ihnen einstöckig, einfach und bescheiden; aber einige waren in ihrem Stil sehr pittoresk, und die Maler malten besonders gern das letzte Haus im oberen Teil der ›Oberen Gasse‹, links vom Tor des Friedhofes (an seiner Stelle befindet sich heute der Eingang zum Krankenhaus). Auf den Türstürzen einiger Häuser waren Krugformen ziseliert, um zu kennzeichnen, dass ihre Besitzer Leviten waren, die beim Gottesdienst die Handflächen der Priester wuschen, bevor diese auf das Podium stiegen, um das Volk zu segnen. Es scheint mir, dass Reliefs wie diese noch auf den Toren von zwei Häusern erhalten sind.

Neben dem Wertheimerhaus stand das Strohhaus, in dem im Jahr 1761 Rabbi Akiba Eger geboren wurde, der durch seine Lehre die Diaspora Israels erleuchtete, und der auch, als er schon Rabbiner von Posen war, seine Responsen ›Akiba, Sohn des Rabbi Mose Güns aus Eisenstadt‹ unterzeichnet hatte. Die Grabsteine von Rabbi Mose Güns und seinen Familienangehörigen sind noch auf dem alten Friedhof erhalten, nicht weit vom Grab des berühmtesten der Rabbiner Eisenstadts, des MaHaRaM Asch, (Rabbi Meir Eisenstadt), dem Verfasser der Bücher ›Panim me’irot‹ (›Leuchtendes Antlitz‹). Wenn nicht neue Vandalen kommen, werden diese Gräber noch viele Generationen erhalten bleiben.

Ehemalige Privatsynagoge Samson Wertheimers, heute im Österreichischen Jüdischen Museum

Ehemalige Privatsynagoge Samson Wertheimers, heute im Österreichischen Jüdischen Museum



Gegenüber diesem Haus stand die große Synagoge (zu unterscheiden von der ›Kleinen Schul‹, die Samson Wertheimer in seinem Haus gebaut hat; in ihr betete man zu meiner Zeit nur an hohen Feiertagen und an besonderen Festen. Sie wurde jetzt von neuem, dank der Anstrengungen von Prof. Kurt Schubert (04. März 1923 – 04. Februar 2007), wieder hergestellt). Mit der großen Synagoge waren das ›Gemeinde-Haus‹, die Rabbinerwohnung, das Badehaus und die Mikwe sowie das ›Schiurzimmer‹, in dem die großen Rabbiner von Eisenstadt ihren Schülern Unterricht gaben, verbunden. Hier errichtete der Rabbiner Asriel Hildesheimer in der Mitte des vorigen Jahrhunderts seine berühmte Jeschiva (Rabbinatsschule), ehe er nach Berlin übersiedelte, wo er das bekannte Rabbinerseminar gründete. In meiner Kindheit kannte ich noch einen seiner letzten Schüler in Eisenstadt, Herrn Asriel Wolf, einen alten Junggesellen, den mein gottseliger Vater als einen wahren Toragelehrten überaus schätzte; in ihm vereinten sich Tora und Lebensweisheit. Zu ihm schickte mich mein Vater manchmal am Schabbat Vormittag ›zum Verhör‹.

Hier, in der Synagoge und ihrer Umgebung, war das Zentrum des Gemeindelebens. Hier versammelten sich die Gemeindemitglieder an Wochen-, Schabbat- und Feiertagen zum Gebet. An den hohen Feiertagen kamen sie und ihre Familienangehörigen, auch jene, die in anderen Teilen der Stadt wohnten, sowie Juden aus den umliegenden Dörfern. Als Kinder fühlten wir nur die Atmosphäre der Heiligkeit, die sich während dieser Zusammenkünfte ausbreitete; wir wussten nur wenig von den Sorgen, die die Herzen unserer Eltern und der übrigen Betenden erfüllten, ‒ Unterhalts-, Erziehungs- und Gesundheitssorgen. Hier kamen die meisten der Gemeindemitglieder zusammen: Händler, Handwerker, Beamte und Lehrer, Weinkellerarbeiter, Ärzte und Rechtsanwälte. Sobald sie in ihren Tallit (Gebetsmantel) gehüllt oder mit dem weißen ›Kittl‹ an den hohen Feiertagen bekleidet waren, konnte man an ihnen keinen Standesunterschied erkennen.

Die Feste verbreiteten eine besondere Atmosphäre in der Gasse. Ernst und mit Ehrfurcht im Herzen kamen die Leute zu Neujahr und am Versöhnungstag in die Synagoge, so wie es sich an Tagen gebührt, an denen der Mensch gefordert ist, sein Gewissen zu erforschen und er seinem Los im kommenden Jahr entgegenbangt. Aber schon in der Woche vor diesen Festen, an den kühlen Morgen des Monats September, vor dem Aufgehen der Morgenröte, gingen wir schweigend in die beleuchtete Synagoge und sagten die ›Slichot‹ (Bußgebete) als Vorbereitung auf die hohen Feiertage. Uns Kindern schien es, als wäre die ganze Welt jetzt in tiefen Ernst gehüllt. Aber gleich nach diesen Feiertagen kamen die Tage des Laubhüttenfestes und in allen Höfen wurden Laubhütten mit dem ›Skakh‹ (Laub, um die Laubhütte zu bedecken) aufgestellt; die Bedeckung bestand aus grünen, wohlduftenden Zweigen. Die Dekorationen an den Wänden gestalteten wir Kinder: vielfärbige Sterne, angefertigt aus glänzendem Buntpapier. Wir lernten diese Kunst in den Handarbeitsstunden in der jüdischen Volksschule, die hinter dem Hof des ›Strohhauses‹ stand. Die Herbstluft war bei diesem Fest schon getränkt vom Duft der Weintrauben und des Mostes, der aus allen Weinbergen und Weinkellern rundum aufstieg. Der letzte Tag des Sukkotfestes ‒ es ist der Tag von ›Simchat tora‹ (Freudenfest der Tora), an dem das Lesen der Toraabschnitte endet und von Neuem beginnt ‒ entschädigte uns für den tiefen Ernst an den Festen, die dem Sukkotfest vorausgegangen waren: Die Stimmung war fröhlich! Alle Kinder, auch die kleinen, die noch nicht das Alter der Gebote (der religiösen Pflichten, bei Buben mit 13 Jahren) erreicht hatten, wurden zur Tora aufgerufen, und, um die Freude zu vergrößern, wurden aus verschiedenen Fenstern Äpfel und Nüsse zu den Kindern bei ihrem Auszug aus der Synagoge geworfen.

Obstauswerfen zu Simchat Tora, Bild: Burgenländisches Landesmuseum

Obstauswerfen zu Simchat Tora, Bild: Burgenländisches Landesmuseum



Ich kenne den Grund für diesen Brauch, den ich danach in keiner anderen Gemeinde gesehen habe, nicht. Vielleicht fielen hier zwei Motive zusammen: das eine, dass die Symbole dieser Früchte in den Midraschim (religiöse Auslegungsschriften) mit Israel verglichen werden, und das zweite ‒ ein Gedenken an das ›Erntefest; der Beiname für das Sukkotfest. Auf jeden Fall erfreuten uns alle diese Tage sehr, sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen.

Chanukkaleuchter, Leihgabe Burgenländisches Landesmuseum

Danach kamen die kalten und verschneiten Tage des Winters und mittendrin das Chanukkafest. Mit dem Dunkelwerden wurden in allen Häusern auf den Fenstersimsen die winzigen Chanukkakerzen auf dem kleinen Leuchter entzündet, der das ganze Jahr im Kasten oder auf dem Regal darauf warte, seine Aufgabe während der acht Chanukkatage zu erfüllen. Danach setzten wir uns ‒ alle Familienangehörigen und manchmal mit eingeladenen Freunden ‒ zu Tisch zu den typischen Chanukkaspielen, in deren Mittelpunkt das Spiel mit dem Kreisel, das ›Trendel‹ (ursprünglich ›Drehdel‹) genannt wurde, stand. Manchmal zogen sich die Erwachsenen auf einen anderen Tisch zurück und spielten ein harmloses Kartenspiel; die Wette ging im Allgemeinen ‒ wie auch beim Spiel mit dem Kreisel ‒ um Nüsse! Das muss man wissen, denn in der Gemeinde Eisenstadt war das Kartenspiel das ganze Jahr hindurch ›verpönt‹ und ein schwerwiegender Bann wurde bereits in den Tagen des MaHaRaM Asch zu Beginn des 18. Jahrhunderts darauf gelegt. Er legte damals viele Verordnungen zur Verbesserung der Moral fest, wie etwa das Verbot für Frauen, Kleider in der neuen Mode des ›Kreolin‹ zu tragen. Das strengste unter allen Verboten war der Bann auf das Kartenspiel und auch in meiner Jugend achtete man im Judenviertel nicht weniger darauf als auf die Kaschrutgesetze (Gebote der rituellen Tauglichkeit, Speisegesetze). Wer aber dem Spieltrieb nachgab, fand für sich einen Ausweg und ging insgeheim mit seinen Freunden in das benachbarte Dorf Kleinhöflein, aus der Annahme heraus, dass der Bann dort nicht mehr gelte. Aber in den Verordnungen des MaHaRaM Asch war das Spiel in den Nächten des Chanukkafestes erlaubt. Man nützte diese Erlaubnis, wenn auch in sehr bescheidener Form! Weil es keinen Bann gibt, der, wenn er aufgehoben war, automatisch seine Gültigkeit wiedererlangt, sondern nur, wenn er von Neuem erklärt wird, verlängerte der Rabbiner (in Übereinstimmung mit dem Gemeindevorsteher) die Zeitdauer der Erlaubnis um einige Tage. Und ich erinnere mich, wie in den Tagen meiner Kindheit der Rabbiner oder der Vorbeter auf die Bima stieg und neben der Torarolle verkündete:

Das Spielen ist asur (verboten) ke-vime kedem (wie früher)!

Zitat Meir Ayali

Und wieder erlangte das puritanische Verbot seine Gültigkeit und der Ernst senkte sich auf die Judengasse bis zum Purimfest im Monat Adar (März/April). An diesem Fest feierten wir die Niederlage des Haman, dem Urvater aller Antisemiten auf der Welt, und niemand konnte damals ahnen, welcher diabolische, um vieles gefährlichere Haman schon darauf wartete, das jüdische Volk zu vernichten und es von der Wurzel her auszurotten; und die Vernichtungswelle sollte ausgerechnet von hier, den ›Siebengemeinden‹ im Burgenland, ihren Anfang nehmen. Fröhlich und freudig drängten wir uns am Purimfest mit den Masken auf unserem Gesicht und wir halfen auch unseren Eltern beim Verteilen der ›Purimgeschenke‹; dieser Brauch sollte die Freundschaft unter den Nachbarn vermehren, wie es uns im Buch Ester befohlen wurde. Mutter legte auf den Teller ein paar Früchte und ein paar Süßigkeiten, herrliche ›Linzerkipferl‹, gab alles in eine farbige Hülle und sagte:

Jetzt gehst du zu Berger. Sagst ›Küss die Hand und guten Purim. Mama schickt Schlachmones‹ und genauso in andere Häuser, die selbstverständlich dieses wichtige Gebot ebenfalls einhielten.

Zitat Meir Ayali

Koscher-Stempel für Pesach

Der Winter zog vorbei, der Schnee verschwand und das Frühlingsfest kam: es ist das Pesachfest, das Fest des Auszugs aus Ägypten, von der Sklaverei in die Freiheit, durchdrungen von Sehnsucht nach baldiger Erlösung und dem Glauben an das Kommen des Propheten Elias, dem Verkünder des Messias, bald in unseren Tagen. Jetzt kam auch die Zeit der großen Reinigung. Es genügte nicht das wöchentliche Scheuern des Fußbodens, das Reinigen und das gewöhnliche Waschen. Jetzt drehte man das ganze Haus um, reinigte, wusch und scheuerte bis auf die Grundfeste und die Hauptsache war, dass sich zum Pesachfest auch nicht ein Körnchen von Gesäuertem im Hause finde! Manchmal bekam man auch ein neues Gewand anlässlich des Festes. Aus der ganzen Gasse stieg der Lärm des Waschens und Scheuerns auf und der Geruch der Sauberkeit breitete sich in allen Häusern aus. Es kam die Sedernacht: nach dem Gebet in der Synagoge setzten sich die Familien zusammen, um das Fest mit dem Lesen der ›Haggada der Pesachnacht‹, der Geschichte des Auszugs aus Ägypten, zu feiern, wie es Brauch unserer Väter durch viele Jahrhunderte hindurch war. Alle Familienangehörigen sangen bis in die späten Nachtstunden die Lieder des Pesachfestes, des Festes unserer Freiheit; eines der Kinder öffnete die Tür weit als Zeichen des Gefühls der Freiheit und in Erwartung auf die Erscheinung des Propheten Elias, dessen Kommen sich verzögerte. Das Trinken der vier Becher in dieser Nacht, die die vier Ausdrücke der Erlösung symbolisierten, die beim Auszug aus Ägypten gesprochen wurden:

ich führte euch (hinaus aus Ägypten)« … »ich rettete euch« … »ich erlöste euch« … »ich nahm euch

2. Buch Mose 6,6-7

Und sogar das Trinken kleiner Mengen hatte seine Wirkung auf unsere Köpfe, die wir um Mitternacht bei einem kurzen Spaziergang bis zum Schlossplatz milderten. Aber obwohl wir im Zentrum der österreichischen Weinkultur wohnten, sah ich niemals einen Betrunkenen durch die Judengasse gehen, nicht einmal beim Purimfest.

So wurden in der Judengasse und in den Familien die übrigen Feste gefeiert, die in unseren jungen Herzen viele tiefe Erlebnisse auslösten. Natürlich herrscht in diesen Schilderungen eine übertriebene Idealisierung, die von Erinnerungen einer fernen Kindheit herrührt. Aber auch damals blieben vor uns die Gefahren nicht verborgen, die manchmal über den Köpfen unserer Eltern schwebten. Zur Zeit meiner Kindheit lebten unter uns noch alte Leute, die sich an die Blutbeschuldigung von ›Tisza Eszlar‹ erinnerten und in den Schaukästen der Nazis, die allenthalben aufzutauchen begannen, wurden giftige Andeutungen ‒ genommen aus dem ›Stürmer‹ ‒ gemacht. Da wir Kinder eine moralisch-puritanische Erziehung genossen hatten und es gemäß den strengen religiösen Gesetzen bezüglich der Kaschrut verboten war, Fleisch zu essen, bevor das Blut durch Einsalzen entfernt worden war, konnten wir nicht glauben, dass jemand von unseren Nachbarn, vor denen wir nichts zu verbergen hatten und mit denen wir in Partnerschaft und Frieden lebten und für die Entwicklung der Stadt arbeiteten, imstande war, diesen ›Unsinn‹ zu glauben.

Nicht in allen Bereichen der Religion ging das Leben in der Gemeinde in den Tagen meiner Jugend so vor sich wie in früheren Jahren. In der Judengasse, die am Schabbat an ihren beiden Ausgängen für den Fahrzeugverkehr abgesperrt wurde ‒ mit einer Eisenkette auf der einen, mit einem Gittertor auf der anderen Seite ‒ waren die Geschäfte selbstverständlich geschlossen. Aber im Zentrum der Stadt, in der ›Hauptgasse‹, waren schon einige Geschäfte von Juden am Schabbat geöffnet, aus der Befürchtung heraus, dass ihr Einkommen zu arg beeinträchtigt werde. Auch in ihren religiösen Einrichtungen war die Gemeinde Eisenstadt schon nicht mehr das, was sie in früheren Jahrhunderten war, als das Licht ihrer Lehre weithin erstrahlte. Die Sorge des gottseligen Vaters darüber war an seinen Seufzern ersichtlich, die manchmal aus seinem Mund schlüpften.

Aber die allgemeine Atmosphäre in der Gasse wurde in meiner Kindheit noch bewahrt. So funktionierten die Einrichtungen der Wohltätigkeit, der Unterstützung und der gegenseitigen Hilfe perfekt. In der Gasse gab es schon nicht mehr viele Reiche, außer der Familie Wolf, die hohe Abgaben an die Gemeindekasse und die Einrichtungen der Gemeinde leistete; doch auch an ihr war die Wirtschaftskrise erkennbar. Aber alle Gemeindemitglieder trugen das Joch dieser Einrichtungen und beteiligten sich überall, wo es nötig war, persönlich an der Hilfeleistung. Die ›Chevra kadischa‹ (›Heiliger Wohltätigkeitsverein‹), die offensichtlich dazu gegründet wurde, sich um die Toten und deren Begräbnis zu kümmern, ließ auch den Lebenden durch Beistand in der Stunde einer Krankheit oder einer anderen Bedrängnis Hilfe angedeihen.

In den Tagen meiner Kindheit gab es noch für alle Fälle (leere) Krankenzimmer in der ›Oberen Gasse‹. Aber es wurde mir erzählt, dass viele Jahre, bevor ich geboren wurde, die Cholera in Eisenstadt wütete und viele Kranke in diese Krankenzimmer gebracht wurden. Ich weiß nicht, wie weit die Geschichte authentisch war, die man im Zusammenhang damit über Herrn Adolf Gabriel, den Vorsteher der ›Chevra kadischa‹, erzählte. Ich kannte ihn in meiner Jugend, wie er wegen seiner schrecklichen Kurzsichtigkeit durch die Gasse taumelte. Auch als Greis noch war er ‒ natürlich ehrenamtlich ‒ seinen Aufgaben in der ›Chevra kadischa‹ treu ergeben. Über ihn erzählte man, dass er in den Tagen der Cholera nicht von den Betten der Kranken in dem kleinen ›Spital‹ wich, sie pflegte, ihnen zu essen gab und sich selbst darum kümmerte, dass jene, die verstarben, begraben wurden. Es war schwer zu glauben, welch körperliche, seelische und moralische Kräfte in diesem kleinen, mageren und bescheidenen Mann ruhten. Manchmal lachten wir über seine Kalkulation, als wir in sein Geschäft kamen, das fast leer war von Waren und Kunden, und ihn in der ›Neuen Freien Presse‹ lesen sahen, die wegen seiner Kurzsichtigkeit wirklich auf seinen Brillen lag, und die Zigarette in seinem Mund ein Loch in die Zeitung brannte. Über die Einrichtungen der Wohltätigkeit und der gegenseitigen Hilfe, so wie sie noch in den Tagen meiner Jugend aufrecht waren, wäre es wünschenswert, mehr Einzelheiten zu erzählen, die Zeugnis ablegen über ihren besonderen Charakter und über den Grundsatz der ›Mitzwa‹ (religiöse Pflicht; Gebot; gute Tat; Anmerkung des Übersetzers), auf den hin wir erzogen wurden. Das entscheidende Element der Wohltätigkeit war, dass sie in einer Form ausgeübt wird, die den Bedürftigen nicht beschämt. Es scheint mir, dass noch über der Wohltätigkeitskasse beim Eingang in die Synagoge von Rabbi Samson Wertheimer die Anfangsbuchstaben Mem, Bet, Jod, Alef eingraviert sind, (ein hebräisches Akrostychon; Anmerkung des Übersetzers) von Sprichwörter, Kapitel 21, Vers 14:

Ein Geschenk im Geheimen verdrängt den Zorn Gottes

Typisch dafür war die Wohltätigkeitskasse, die die Leute der ›Chevra kadischa‹ auf den Tisch im Haus von Trauernden stellten. Viele Münzen lagen schon darin, wenn sie unverschlossen zu den Trauernden gebracht wurde. Und selbstverständlich warf jeder, der kam, um sie in den sieben Tagen der Trauer zu trösten, ‒ durch einen Schlitz an der Oberseite ‒ heimlich etwas von seinem Geld in die Kasse ein; jeder so, wie er dazu imstande war. Die Absicht war, dass die Familie der Trauernden, die in den sieben Tagen ihrer Trauer verhindert war, ihrer Arbeit nachzugehen, am Abend ohne jede Überprüfung die ganze Summe, die für ihre Lebenshaltung notwendig war, aus der Kasse entnehmen konnte. Niemals überprüften die Vorsteher der ›Chevra kadischa‹ den Inhalt der Kasse und ich hätte mich nicht gewundert, wenn man in den Zwanziger Jahren am Boden der Kasse Münzen aus den Tagen des habsburgischen Kaiserreiches gefunden hätte.

Judengasse Eisenstadt, ca. 1920 (obere Gasse, heute Wertheimergasse)

Judengasse Eisenstadt, ca. 1920 (obere Gasse, heute Wertheimergasse)



Ein Ereignis, dessen Sinn mir erst viele Jahre danach bekannt wurde, grub sich besonders in meinem Gedächtnis ein. An einem Abend besuchte uns Herr N., ein wohlhabender alter Mann, der ehrenvoll von seinen Ersparnissen lebte. Nie gehörte er zu dem engeren Freundeskreis meines Vaters und nie hatte er unser Haus besucht. Er bat, mit Vater ›unter vier Augen zu sprechen‹. Viele Jahre kannten wir nicht die Bedeutung dieser Geheimnistuerei. Erst Jahre, nachdem Herr N. kinderlos gestorben war, deckte mir Vater sein Geheimnis auf: als die Bank, auf der seine Ersparnisse lagen, Konkurs machte, blieb Herr N. in großer Armut zurück. Er wusste nicht, wovon er im kommenden Monat leben sollte und er war aus Schamgefühl nicht dazu imstande, sich an die Wohltätigkeitskasse zu wenden. Mit Hilfe eines geheimen Wohltätigkeitsfonds der Familie Wolf, für den Vater verantwortlich zeichnete, erreichte Vater eine festgesetzte monatliche Rente für Herrn N. bis zu seinem Lebensende, ohne dass jemand in der Gemeinde eine Veränderung in seiner sozialen Stellung wahrnehmen konnte.

Die Teilnahme an den Wohltätigkeitsfonds befreite niemanden vom persönlichen Handeln. Die Vorsteher der ›Chevra kadischa‹ und andere erfüllten selbstverständlich freiwillig ihre Aufgaben, die manchmal mit großer Mühe und erheblichem Zeitaufwand verbunden waren. Das Verrichten einer Mitzwe war mehr Verdienst als eine ernste Pflicht. Als ich ungefähr 15 Jahre alt war, trug mich mein gottseliger Vater als Neuling in der ›Chevra kadischa‹ ein. Er war verpflichtet, einige hundert Schilling Einschreibgebühr zu zahlen, und nachdem die Vorsteher der Chevra meine Aufnahme bestätigt hatten, wurde ich am Schabbat zur Tora und zum Lesen der Haftara (Text aus den Prophetenbüchern; Anmerkung des Übersetzers) aufgerufen. Was waren meine Rechte und Pflichten von nun an? Es waren nicht viele Wochen vergangen, als ich eine Nachricht empfing: der greise Herr Moritz Machlup ist sehr krank und da auch seine Tochter alt ist, kann sie ihn nicht pflegen. Ich musste die ganze kommende Nacht zur Unterstützung neben seinem Bett sitzen und ihm in allem helfen, wo er bedürftig war. Herr Machlup war früher ein Antiquitätenhändler, aber die Jahre der Wirtschaftskrise ließen auch ihn verarmen. Es lag in der Möglichkeit der ›Chevra kadischa‹, eine Frau anzustellen, die ihn pflegen würde, aber wo ist hier die persönliche Erfüllung der Mitzwa (›der guten Tat‹)? Nichts halfen die Proteste der gottseligen Mutter, dass man dem ›Kind‹ eine schwere Aufgabe wie diese auferlegte; ‒ meiner Reife und der Verantwortung, die mir auferlegt wurde, bewusst, ging ich zur armen Wohnung des Alten und pflegte ihn ein oder zwei Nächte.

Eines Morgens, als wir das Schlagen des Holzhammers auf das Tor des Hauses hörten, das zum Morgengebet rief, wurden wir darauf aufmerksam, dass anstelle von drei Schlägen ‒ ta, ta, ta ‒ nur zwei gegeben wurden.

Wie es scheint, ist Herr Machlup diese Nacht gestorben

Zitat Meir Ayali

sagte Vater, denn dies war das Zeichen, dass ein Beter von nun an in der Synagoge fehlen wird.

Noch ein Bild aus den Tagen meiner frühen Kindheit steigt in meinem Gedächtnis auf. Ich war noch keine sechs Jahre, als ich wegen der Krankheit meiner Mutter den ganzen Winter bei Großvater und Großmutter in Lackenbach verbrachte. Sie hatten ein Lebensmittelgeschäft nahe der Wohnung, aber Großvater war sehr beschäftigt mit den Sorgen der Gemeinde, in der er viele Jahre als Oberhaupt diente. Es schneite stark und ich kniete im gemütlichen Zimmer auf der zum Fenster gelehnten Couch und blickte auf die weiß bedeckte Straße und auf die in ihre Mäntel eingehüllten Gestalten, die auf der Gasse vorübergingen. Da zog ein mit Holz beladener Wagen vorüber und neben dem Kutscher saß Großvater; eine Wollhaube bedeckte seinen Kopf und sein Gesicht. Sooft der Wagen stehen blieb, lud Großvater zusammen mit dem Kutscher neben verschiedenen Häusern gehackte Holzstücke vom Wagen. Großvater übergab die Leitung des Geschäfts für einige Stunden der Großmutter und selbst teilte er Holz an Familien aus, die sich ohne diese Hilfe in dem strengen Winter kein gewärmtes Zimmer hätten leisten können.

Judengasse Eisenstadt, Obere Gasse, heute Wertheimergasse

Judengasse Eisenstadt, Obere Gasse, heute Wertheimergasse



Hätte ich über alle Bräuche in der Judengasse und über die verschiedenen Charaktere in der Gemeinde erzählt ‒ Menschen, die durch ihre Taten hervorragten und einfache Leute, die keine große Rolle spielten ‒ hätte ich noch viele Blätter Papier füllen müssen. Sie alle verschwanden plötzlich und wurden durch eine verbrecherische Hand ausgerottet. Ich könnte mich trösten, wüsste ich, dass alle jene sich hätten aufmachen und ihr persönliches Hab und Gut, ihre Bücher und ihre Bräuche mit sich nehmen können und erhobenen Hauptes Zuflucht gefunden hätten. Aber so war nicht das Los der meisten von ihnen. Vor den Augen ihrer Nachbarn, mit denen sie und ihre Väter durch hunderte von Jahren Straße an Straße gewohnt hatten, wurden sie misshandelt, gedemütigt und vertrieben. Die meisten von ihnen wurden am Weg und in den Vernichtungslagern getötet; es gab auch solche, die Selbstmord begingen. Mit schmerzendem Herzen erinnere ich mich an den verdienstvollen Arzt Dr. Pap, der mit dem Titel ›Medizinalrat‹ und danach mit dem Titel ›Sanitätsrat‹ wegen seiner großen Verdienste für das Gesundheitswesen der Stadt ausgezeichnet wurde. Wer kannte nicht die magere Gestalt mit dem asketischen Gesicht und der glänzenden Glatze, die von Haus zu Haus lief, um Heilung zu bringen ‒ auch ohne jegliche Bezahlung. Niemand erhob sich, um zu protestieren, als er geschlagen und gezwungen wurde, eine mit Steinen voll beladene Schubkarre ohne jedes Ziel durch die Gassen der Stadt zu führen und er an jeder Ecke gedemütigt wurde. Mit Schwierigkeit entkam er nach Italien, wo er Selbstmord beging. Und wer von uns erinnert sich nicht an Sándor Wolf: bis heute existiert niemand, der Eisenstadt mehr liebte als er, der mit seinem Geld und seinen Händen seine Vorgeschichte erforschte und seine Vergangenheit von den Tagen der Römer an aufdeckte und der das berühmte Museum errichtete. Wie viele Demütigungen musste er ertragen, bis es ihm gelang, in völliger Armut zu entkommen und das Land Israel zu erreichen!

Mir blieben alle diese Leiden erspart, denn ich verließ am Beginn der Dreißiger Jahre, als ich fast noch ein Bub war, Eisenstadt und Österreich, wo meine Ahnen und Urahnen durch hunderte von Jahren lebten, und schloss mich der Gruppe der Pioniere in ›Eretz Israel‹ (›Land Israel‹) an.

Mit großer Liebe trage ich in mir das Gedenken an diese Gemeinde, an ihre Größe und an ihre Kleinlichkeiten. Aber die finsteren historischen Ereignisse führten dazu, dass ich Eisenstadt in meinem Gedächtnis von der geographischen Realität getrennt habe und es irgendwo in fernen Sphären schwebt. Erst Kurt und Ursula Schubert halfen mir zurückzukehren und es manchmal als etwas zu fühlen, was wirklich war.

3 Kommentare zu Meine Kindheit in der Judengasse in Eisenstadt

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