Koschere Melange

Das Blog des Österreichischen Jüdischen Museums - ISSN 2410-6380

Schlagwort: schawuot

Wenn Würmer in den Kirschen nisten …

Jetzt ist Kirschenzeit. Hier im Burgenland, nahe Eisenstadt, gibt es den wunderschönen Kirschblüten-Radweg, die Bäume blüh(t)en prächtig (die eigentliche Kirschblüte ist schon vorüber) und auch auf den Märkten erhält man…

Jetzt ist Kirschenzeit. Hier im Burgenland, nahe Eisenstadt, gibt es den wunderschönen Kirschblüten-Radweg, die Bäume blüh(t)en prächtig (die eigentliche Kirschblüte ist schon vorüber) und auch auf den Märkten erhält man allerorts die leckeren Früchte aus der Familie der Rosengewächse.

  • Dienstliche Radtour zum Kirschblütenweg ;)
  • Noch: Kirschen ohne Würmer ...
  • Kirschen am Markt ...


Nun mag aber etwas die Freude des Kirschenessens trüben, nämlich die Würmer, die sich nur allzu gern in den Kirschen einnisten …
Und genau diese Würmer sind es auch, die eine Kirsche im Judentum zum verbotenen Lebensmittel machen (Update, 13.06.2011: so sie nicht aufgemacht und untersucht werden, siehe Kommentare). Mit anderen Worten: Kirschen gelten nur so lange als rituell in Ordnung und im weiteren Sinn als koscher, solange sie wurmfrei sind (Mit Ausnahme von vier Heuschreckenarten sind alle Reptilien, Amphibien, Würmer und Insekten unreine Tiere)!

Ein sehr schöner Merksatz hat sich mir dabei gut eingeprägt:

Kirschen bis Korach

Korach“ (4. Buch Mose – Numeri – 16,1-18,32) ist jener Leseabschnitt der Tora (Parascha), der heuer am Schabbat, dem 25. Juni, also in knapp 2 Wochen, gelesen wird! Bis zu diesem Datum also dürfen Sie noch gefahrlos Kirschen genießen, danach müssten Sie die Kirschen schon genau untersuchen, um zu klären, ob es sich Würmer in ihnen wohnlich gemacht haben ;)

Ob der Spruch „Kirschen bis Korach“ in der jüdischen Gemeinde Eisenstadt früher auch bekannt war, vermag ich nicht zu beurteilen, die Würmer in den Kirschen waren jedenfalls sehr wohl schon ein Thema kurz nach Schavu’ot:

Bald nach Schowuoth ist das Schuljahr zu Ende: die Gasse wird leerer, denn die Kinder vom Lande fahren nach Hause. Noch eine Pflicht haben sie sozusagen zu erfüllen: den ersten Wurm in den Kirschen zu suchen und zu finden. Wer die erste wurmige Kirsche zum Rabbiner bringt, erhält vom Tempelvorsteher 10 kr. ausbezahlt; in der Gasse aber wird verrufen, dass unaufgemachte Kirschen von nun an „osser wie cahser“ (verboten wie Schweinefleisch) sind […]

Fürst A., Sitten und Gebräuche einer Judengasse, Székesfehérvar 1908

PS: Heißt es im Judentum „Kirschen bis Korach“, so hört man – zumindest in unserer Region – oft den Spruch: „Die Maikirschen (also die ersten Kirschen) haben keine Würmer“.

22 Kommentare zu Wenn Würmer in den Kirschen nisten …

Schavu’ot 5771/2011

Du sollst das Wochenfest feiern, das Fest der Erstlingsfrüchte von der Weizenernte und das Fest der Lese an der Jahreswende. 2. Buch Mose (Exodus) 34,22 Am 06. Tag des Monats…

Du sollst das Wochenfest feiern, das Fest der Erstlingsfrüchte von der Weizenernte und das Fest der Lese an der Jahreswende.

2. Buch Mose (Exodus) 34,22

Am 06. Tag des Monats Sivan (heuer Mittwoch, 08. Juni) wird Schavu’ot gefeiert. In der Diaspora dauert das Fest zwei Tage, also heuer 08. und 09. Juni. Das hebräische Wort „Schavu’ot“ bedeutet „Wochen(fest)“, weil es auf den 50. Tag (ca. 7 Wochen) nach dem Pesachfest fällt. Andere meinen, dass das Wort nicht „Wochen(fest)“ bedeutet, sondern „Gelübde“, weil mit diesem Fest zwei Gelübde verbunden sind: das Gelübde, das das Volk Israel am Fuß des Sinai ablegte – „Wir wollen tun, wir wollen gehorchen“ (2. Buch Mose 24,7) -, und das Gelübde, das der Herr ablegte, als er versprach, das erwählte Volk durch kein anderes zu ersetzen. Ein weiterer Name für das Fest ist „das Fest der Gesetzgebung“, weil der Auszug aus Ägypten (Pesach) nur die Vorbereitung für die Gesetzgebung am Fuße des Berges Sinai war.

Schon in unserem ersten Beitrag zu Schavu’ot lesen wir, dass zuweilen Fehler passierten beim (rituellen) Zählen der 49 Tage zwischen Pesach und Schavu’ot. ;)

Und unser Tipp, den herrlichen schavu’ot-typischen Topfen-/Käsekuchen zu genießen, gilt übrigens auch nur, wenn Sie richtig gezählt haben:

Zu Schowuoth gilt es den Tempel recht hübsch herzurichten. Grünende Triumphbögen, blühende Kronen, duftendes Heu gestalten den Aufenthalt im Gotteshause wirklich zum Naturgenuß. Die erste Nacht wird trotzdem nicht hier, sondern im Beth-hammidrasch [Lehrhaus] – Lokal zugebracht (siehe unten); dort wird auch schwarzer Kaffee serviert und bei Morgengrauen das Morgengebet verrichtet. In der Frühe steht Jüdelein dann auf wie ein „Goj“, d.h. er setzt sich, ohne früher zu beten, zum Frühstück, zu den lachenden „Zworachdelkel“, Topfenkuchen, die nur demjenigen gebühren, der alle 49 Tage ohne Fehler gezählt hat […]

Fürst A., Sitten und Gebräuche einer Judengasse, Székesfehérvar 1908

Schavu’ot ist der Festtag der Tora schlechthin. Im Mittelpunkt steht die Erwählung Israels, die Verkündung der 10 Gebote und die Übergabe der Bundestafeln. In der Liturgie wird das Fest „Fest der Gabe unserer Tora“ זמן מתן תורתנו genannt.

Lyrics und Musik im Video von der großartigen Naomi Less, Songschreiberin und Musikerin, die vor allem mit ihrem Projekt „Jewish Chicks Rock“ große Bekanntheit erlangte, ein Projekt, mit dem sie jüdische Mädchen auf ihre Zukunft vorbereiten möchte.


Der Abend von Schavu’ot ist ganz dem Torastudium gewidmet und um das Verhalten der Vorfahren zu „korrigieren“ und ihre fehlende Wachsamkeit wiedergutzumachen (das Volk hatte trotz rechtzeitiger Ankündigung der Gesetzgebung am Sinai geschlafen und musste von Mose aufgeweckt werden), wird diese Nacht der Wache als „Tikun“, als Korrektur des Abends des Wochenfestes, bezeichnet (s.o. Bericht von Fürst). Man bleibt daher meist die ganze Nacht über wach und verbringt die Zeit mit dem gemeinsamen Torastudium, hört Vorträge, singt und tanzt und studiert wieder … bis zum Morgengrauen, daher gilt für heute Abend:

Stay Up All Night!


Danke unserem Kommentator Meir Deutsch für den Videolink!

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern unserer Koscheren Melange ein fröhliches Schavu’ot!

חג שבועות שמח!

Wir dürfen auch nochmals auf unsere beiden Beiträge über die 10 Gebote hinweisen: „Die 10 Gebote I“ und „Die 10 Gebote II“ sowie auf die schon vergangenes Jahr verlinkte ausführlichere Einführung zu Schavu’ot von Michael Rosenkranz und wünschen guten Appetit mit dem herrlichen schavu’ot-typischen Käsekuchen :)


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Bild der Woche – Die berühmte Kette

Die Kette, die zur Absperrung des Eisenstädter Judenviertels am Schabbat und an jüdischen Feiertagen diente, ist wohl mittlerweile allseits bekannt. Sie diente zur Kreierung eines sogenannten „Eruv“ zum Tragen, d….

Die Kette, die zur Absperrung des Eisenstädter Judenviertels am Schabbat und an jüdischen Feiertagen diente, ist wohl mittlerweile allseits bekannt. Sie diente zur Kreierung eines sogenannten „Eruv“ zum Tragen, d. h. dazu, die Judengasse am Schabbat zu einem Gebiet zu machen, in dem ein Jude Gegenstände mit sich tragen darf. Diesen „Eruv“ beschreibt Esther Calvary in ihren Memoiren. Esther war eine in Eisenstadt geborene Tochter des damals (bis 1869) dort tätigen Rabbiners Esriel Hildesheimer, der später in Berlin die orthodoxe Separatgemeinde „Adass Jisroel“ und das orthodoxe Rabbinerseminar gründete.

Die Schabbat-Kette, ca. 1920

Die Schabbat-Kette am unteren Ende der Judengasse, ca. 1920
Links im Bild das Wertheimerhaus, damals die Weinhandlung „Leopold Wolf’s Söhne“, heute unser jüdisches Museum

Am Freitagabend wurden die Ketten und Eisengitter zugemacht, so daß für die Zeit von Anfang bis Ende von Schabbat kein Wagen durch die Gasse fahren konnte. Die eine Kette lag gerade gegenüber von der „Traube“, die andere vor der Einfahrt in die Stadt. Es waren dadurch zwei Gassen für Wagen gesperrt, denn die sogenannte Obere Gasse hatte an ihrem Ende eine Mauer, und da war auch der Eingang zum Beth Hakworaus [Friedhof], das natürlich auch von Mauern eingefaßt war.

Am Ende der Kette der unteren Gasse wohnten auch noch Leute. Da waren die großen Kellereien und Wohnhäuser von der bedeutenden Weinfirma Leopold Wolf’s Söhne. Wolf hatte von dem Fürsten Esterhazy einen großen Meierhof gekauft, worin früher die Milchwirtschaften gewesen. Dort haben die Wolfs Böttchereien und Kellereien erbaut. Sie zogen dann aber auch eine Mauer, die sich bis an das Beth Hakworaus hinzog, so daß man auch hier am Schabbat tragen durfte. In der Weinlese kamen die Bauern aus Rust und den kroatischen Dörfern mit ihren Maisch-Bottichen angefahren; sie kamen manchmal am Freitagabend, wenn man eben nach Schul [in die Synagoge] ging, und durften nicht mehr abladen, so daß Wagen an Wagen meilenweit auf der Landstraße stehen musste, bis nach Nacht [am Schabbat-Ausgang] die Ketten gelöst wurden und sie abladen durften.

Der Zaun am oberen Ende der Gasse, ca. 1920

Der Zaun am oberen Ende der Gasse, ca. 1920
Dass an dieser Stelle statt des Zauns einmal eine Kette war, können wir leider durch kein Bild belegen. Links im Bild das koschere Restaurant Hess, ehemals das Gasthaus „Traube“

Am Wochenfest braucht man zwar keinen „Eruv“, die Kette wurde jedoch vorgelegt, um die Durchfahrt zu verhindern und somit eine feierliche Atmosphäre zu schaffen. In diesem Zusammenhang erinnert sich Esther Calvary an die folgende Begebenheit:

Einmal am zweiten Tag Schwuauss [Schawuot, Wochenfest], als die Ketten vorlagen, kam plötzlich ein Junge von 15 bis 16 Jahren aus einem benachbarten Dorfe, wo seine Eltern als einzige Juden lebten, angefahren und bekam, als er die geschlossene Gasse sah, einen großen Schreck [denn er hatte den Festtag entweiht]. Der Vater [Hildesheimer] wurde gerufen und er gebot dem Knaben, der schrecklich heulte, ausspannen zu lassen und den Tag bis zum Abend im Gasthaus „Traube“ zu bleiben. Weinend erzählte er [der Junge] auch, daß seine Mutter zu waschen begonnen habe. Vater schickte gleich einen Boten an die Eltern, sie sollten den Laden schließen und aufhören zu waschen, es sei noch Jom Tow [Feiertag], sie hätten bloß falsch geaumert [falsch Omer gezählt].

Leider findet man auch heute noch, selbst in der (halb)wissenschaftlichen Literatur, immer wieder die vollkommen falsche Darstellung, dass die Kette heute ein Symbol dafür sei, dass die „Mauern hinter dieser Kette den Juden jahrhundertelang zum Gefängnis geworden sind“! Dabei hatte die Schabbat-Kette nicht nur die obgenannte innerjüdische Bedeutung, sondern war auch ein Zeichen der politischen Autonomie, eine Autonomie, die sich die jüdische Gemeinde Eisenstadt als einzige jüdische Gemeinde bis 1938 erhalten konnte!



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Die 10 Gebote II

Über die Schwierigkeit, bis 10 zu zählen Judentum und Christentum sind, wie im ersten Teil dieses Beitrags erläutert, uneins in der Zählung der 10 Gebote. In der bildlichen Darstellung der…

Über die Schwierigkeit, bis 10 zu zählen

Judentum und Christentum sind, wie im ersten Teil dieses Beitrags erläutert, uneins in der Zählung der 10 Gebote.

In der bildlichen Darstellung der Gebotstafeln setzt sich die jüdisch-christliche Differenz im Umgang mit dem Zehnwort fort: Während in jüdischer Darstellung die Gebote 1 bis 5 auf der ersten Tafel, die Gebote 6 bis 10 auf der zweiten Tafel zu stehen kommen, finden sich in christlicher bzw. katholischer und lutherischer Darstellung auf der ersten Tafel die Gebote 1 bis 3 (nach jüdischer Zählung sind dies die Gebote 2 bis 4, also: Fremdgötter-/Bilderverbot, Verbot des Missbrauchs des göttlichen Namens und Schabbatgebot), auf der zweiten Tafel die Gebote 4 bis 10 (nach jüdischer Zählung: 5 bis 10; vgl. Köckert 2007. S. 26-35).

Darstellung der 10 Gebote auf den 2 Gesetzestafeln auf einem Toraschild der Wertheimersynagoge


Verblüffenderweise nun nehmen Juden und Christen für diese ungleiche Praxis ein gerade übereinstimmendes Erklärungsmuster in Anspruch:

„[N]ach allgemeine[r] Auffassung“, so erläutert Schalom Ben-Chorin im Blick auf die jüdische Anordnung der Gebote, „[regeln] die ersten fünf Gebote die Beziehung des Menschen zu Gott (…)“, die Gebote 6 bis 10 betreffen „die Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Nebenmenschen“ (Die Tafeln des Bundes. Tübingen: Mohr 1979. S. 34). Das Christentum weist ganz analog die Gebote der ersten Tafel, d.h. die Gebote 1 bis 3 nach katholischer bzw. lutherischer Zählung, dem „Verhältnis zu Gott“ zu, die Gebote der zweiten Tafel dem „Verhältnis zum Mitmenschen“ (so der christliche Theologe H. G. Pöhlmann: Pöhlmann/Stern 2000. S. 19).

Diese Bestimmung der Gebote der ersten Tafel als das Verhältnis von Mensch und Gott betreffend ist unmittelbar einsichtig für die Gebote 2 bis 4 der jüdischen bzw. 1 bis 3 der christlichen (katholischen und lutherischen) Zählung, also für das Fremdgötter- und Bilderverbot, das Verbot des Missbrauchs des göttlichen Namens und das Schabbatgebot, die von jüdischer und christlicher Seite übereinstimmend auf der ersten Tafel gelistet werden, außerdem auch für die Selbstvorstellung Gottes, also das erste Gebot nach jüdischer Zählung (das in der katholischen und lutherischen Zählung ausfällt).

Erklärungsbedürftig ist allenfalls, warum nach jüdischer Anordnung auch noch das Gebot der Eltern-Ehrung auf der ersten Tafel zu stehen kommt, wogegen es nach katholischer und lutherischer Anordnung auf die zweite Tafel verwiesen wird. „Für uns Juden“, so erklärt Rabbiner Marc Stern, „ist das Elterngebot ein Gebot, das sich auf Gott bezieht, denn Gott ist bei der Zeugung eines Kindes dabei, und wenn ein Kind geboren wird, ist er der dritte Partner neben Vater und Mutter“ (Pöhlmann/Stern 2000. S. 19); Schalom Ben-Chorin ergänzt: Die Eltern stünden für das unmündige Kind „an Stelle Gottes“, freilich: nur sofern sie dem Kind tatsächlich „Gottes Wort und Wille (…) vermitteln“ (Ben-Chorin 1979. S. 97ff.) – entsprechend eben kommt das Gebot der Eltern-Ehrung, als fünftes Gebot nach der Selbstvorstellung Gottes, dem Fremdgötter-/Bilderverbot, dem Missbrauchsverbot und dem Schabbatgebot, auf der ersten Tafel zu stehen, die der Gottesbeziehung gewidmet ist. Christlicherseits wird dagegen das Gebot der Eltern-Ehrung dem zwischenmenschlichen Bereich zugerechnet (vgl. Pöhlmann/Stern 2000. S. 19) – und hat seinen Ort entsprechend auf der zweiten Gebotstafel, wogegen sich die erste Tafel eben auf die drei Gebote der Gottesbeziehung: Fremdgötter-/Bilderverbot, Missbrauchsverbot und Schabbatgebot, beschränkt.

Kurz also: 5 + 5 = 10 = 3 + 7.

In der vergangenen Woche, am 19./20. Mai bzw. am 6./7. Siwan, wurde Schawuot, das Wochenfest, gefeiert, das u.a. die Gabe des Zehnworts bzw. der Tora an das Volk Israel zum Inhalt hat. Als (verspätete)Beilage zu unserer heutigen Melange empfehlen wir schawuot-typischen Topfenkuchen …;)


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Die 10 Gebote I

Über die Schwierigkeit, bis 10 zu zählen 5 + 5 = 10 = 3 + 7 – was hier als mathematische Gleichung daherkommt, ist tatsächlich die Kurzfassung einer religiösen Meinungsverschiedenheit,…

Über die Schwierigkeit, bis 10 zu zählen

5 + 5 = 10 = 3 + 7 – was hier als mathematische Gleichung daherkommt, ist tatsächlich die Kurzfassung einer religiösen Meinungsverschiedenheit, auf die uns aufmerksame Museums- bzw. Synagogenbesucher regelmäßig hinweisen: Judentum und Christentum sind uneins in der Anordnung der Zehn Gebote, hebräisch „Aseret ha-Diwrot“, „die zehn Worte“, die nach biblischer Auskunft Israel am Sinai auf zwei Tafeln übergeben wurden (und die übrigens in der Tora zweifach überliefert sind: in 2. Mose 20 sowie in 5. Mose 5). Während sich nämlich das Zehnwort in jüdischen Darstellungen, z.B. auf dem Toraschrein unserer Synagoge, gleichmäßig auf die beiden Gebotstafeln verteilt: 5 Gebote auf der ersten, 5 Gebote auf der zweiten Tafel, listen christliche (bzw. genauer: katholische und lutherische) Darstellungen auf der ersten Tafel 3, auf der zweiten 7 Gebote.

  • Gebotstafeln - christliche (katholische) Anordnung; Hochaltar der Malteserkirche, Wien (Detail)
  • Gebotstafeln - jüdische Anordnung; Toraschrein der Wertheimersynagoge, Eisenstadt (Detail)


Um diese Differenz in der Gebotsverteilung aufzuklären, müssen wir uns in einem ersten Schritt der einigermaßen verwickelten Frage der Gebotszählung zuwenden.

Hier zunächst der Text des Zehnworts samt der jüdischerseits üblichen Gebotszählung:

[1. Gebot:] Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.

[2. Gebot:] Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.

[3. Gebot:] Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.

[4. Gebot:] Gedenke des Sabbats, dass du ihn heiligst! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn geheiligt.

[5. Gebot:] Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.

[6. Gebot:] Du sollst nicht töten.

[7. Gebot:] Du sollst nicht die Ehe brechen.

[8. Gebot:] Du sollst nicht stehlen.

[9. Gebot:] Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.

[10. Gebot:] Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.

2. Mose 20, 2-17 (der Text folgt, mit einigen an Rabbiner Marc Stern orientierten Abweichungen, der Einheitsübersetzung; nach Marc Stern wurde auch die Gebotszählung ergänzt: Horst Georg Pöhlmann/Marc Stern: Die Zehn Gebote im jüdisch-christlichen Dialog. Frankfurt a.M.: Otto Lembeck 2000. S. 18f.)

Das Christentum nun hat, zusammen mit der gesamten hebräischen Bibel, auch das Zehnwort übernommen, geht allerdings, was die Gliederung anlangt, eigene Wege – wobei inner-christlich wiederum konfessionelle Differenzen in der Zählung der Gebote auftreten.

Man kann eben auf sehr verschiedene Weise bis zehn zählen,

erklärt lapidar der Berliner Alttestamentler Matthias Köckert – und unterscheidet im Ganzen drei Grundtypen der Gebotszählung:

Man reduziert am Anfang, indem man (a) entweder Fremdgötter- und Bilderverbot zusammenzieht oder (b) die Selbstvorstellung Gottes als Präambel aus der Zählung herausnimmt oder (c) das Bilderverbot als bereits im Fremdgötterverbot enthalten streicht. Je nachdem muss man am Ende die Verbote des Begehrens in ein einziges zusammenziehen oder auf zwei verteilen

Die Zehn Gebote. München: C.H. Beck 2007. S. 27f.

Heißt vereinfacht gesagt: Wer am Anfang einspart, hat zum Ende hin noch Reserven.

Diesem Prinzip folgen sowohl der Katholizismus wie die lutherischen Kirchen, wenn sie die Selbstvorstellung Gottes als 1. Gebot eliminieren, womit das Fremdgötter- und Bilderverbot an die erste Stelle aufrückt (bei Luther: nur das Fremdgötterverbot); diese Einsparung erlaubt es, an späterer Stelle ein weiteres Gebot einzuführen, das durch Aufspaltung des 10. Gebots (nach jüdischer Zählung) gewonnen wird: Das Verlangen „nach der Frau deines Nächsten“ wird nach katholischer und lutherischer Zählung im 9. Gebot verhandelt, das Verlangen nach dessen Besitz im 10. Anders wiederum verfahren die reformierten und orthodoxen Kirchen, die nämlich das 2. Gebot der jüdischen Zählung aufspalten und das Fremdgötterverbot als 1. Gebot, das Bilderverbot als 2. Gebot auffassen, im Weiteren aber der jüdischen Zählung folgen (vgl. eben Köckert 2007. S. 28-35).

Wie sich die jüdisch-christliche Differenz im Umgang mit dem Zehnwort in der bildlichen Darstellung der Gebotstafeln fortsetzt, lesen Sie im – nach Schawuot erscheinenden – zweiten Teil dieses Beitrags.

Am 19./20. Mai bzw. am 6./7. Siwan wird Schawuot, das Wochenfest, gefeiert, das u.a. die Gabe des Zehnworts bzw. der Tora an das Volk Israel zum Inhalt hat. Als Beilage zu unserer heutigen Melange empfehlen wir die Einführung zu Schawuot von Michael Rosenkranz.


12 Kommentare zu Die 10 Gebote I

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