Über die Schwierigkeit, bis 10 zu zählen 5 + 5 = 10 = 3 + 7 – was hier als mathematische Gleichung daherkommt, ist tatsächlich die Kurzfassung einer religiösen Meinungsverschiedenheit,…
Über die Schwierigkeit, bis 10 zu zählen
5 + 5 = 10 = 3 + 7 – was hier als mathematische Gleichung daherkommt, ist tatsächlich die Kurzfassung einer religiösen Meinungsverschiedenheit, auf die uns aufmerksame Museums- bzw. Synagogenbesucher regelmäßig hinweisen: Judentum und Christentum sind uneins in der Anordnung der Zehn Gebote, hebräisch „Aseret ha-Diwrot“, „die zehn Worte“, die nach biblischer Auskunft Israel am Sinai auf zwei Tafeln übergeben wurden (und die übrigens in der Tora zweifach überliefert sind: in 2. Mose 20 sowie in 5. Mose 5). Während sich nämlich das Zehnwort in jüdischen Darstellungen, z.B. auf dem Toraschrein unserer Synagoge, gleichmäßig auf die beiden Gebotstafeln verteilt: 5 Gebote auf der ersten, 5 Gebote auf der zweiten Tafel, listen christliche (bzw. genauer: katholische und lutherische) Darstellungen auf der ersten Tafel 3, auf der zweiten 7 Gebote.
Um diese Differenz in der Gebotsverteilung aufzuklären, müssen wir uns in einem ersten Schritt der einigermaßen verwickelten Frage der Gebotszählung zuwenden.
Hier zunächst der Text des Zehnworts samt der jüdischerseits üblichen Gebotszählung:
[1. Gebot:] Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
[2. Gebot:] Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.
[3. Gebot:] Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.
[4. Gebot:] Gedenke des Sabbats, dass du ihn heiligst! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn geheiligt.
[5. Gebot:] Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.
[6. Gebot:] Du sollst nicht töten.
[7. Gebot:] Du sollst nicht die Ehe brechen.
[8. Gebot:] Du sollst nicht stehlen.
[9. Gebot:] Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
[10. Gebot:] Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.
2. Mose 20, 2-17 (der Text folgt, mit einigen an Rabbiner Marc Stern orientierten Abweichungen, der Einheitsübersetzung; nach Marc Stern wurde auch die Gebotszählung ergänzt: Horst Georg Pöhlmann/Marc Stern: Die Zehn Gebote im jüdisch-christlichen Dialog. Frankfurt a.M.: Otto Lembeck 2000. S. 18f.)
Das Christentum nun hat, zusammen mit der gesamten hebräischen Bibel, auch das Zehnwort übernommen, geht allerdings, was die Gliederung anlangt, eigene Wege – wobei inner-christlich wiederum konfessionelle Differenzen in der Zählung der Gebote auftreten.
Man kann eben auf sehr verschiedene Weise bis zehn zählen,
erklärt lapidar der Berliner Alttestamentler Matthias Köckert – und unterscheidet im Ganzen drei Grundtypen der Gebotszählung:
Man reduziert am Anfang, indem man (a) entweder Fremdgötter- und Bilderverbot zusammenzieht oder (b) die Selbstvorstellung Gottes als Präambel aus der Zählung herausnimmt oder (c) das Bilderverbot als bereits im Fremdgötterverbot enthalten streicht. Je nachdem muss man am Ende die Verbote des Begehrens in ein einziges zusammenziehen oder auf zwei verteilen
Die Zehn Gebote. München: C.H. Beck 2007. S. 27f.
Heißt vereinfacht gesagt: Wer am Anfang einspart, hat zum Ende hin noch Reserven.
Diesem Prinzip folgen sowohl der Katholizismus wie die lutherischen Kirchen, wenn sie die Selbstvorstellung Gottes als 1. Gebot eliminieren, womit das Fremdgötter- und Bilderverbot an die erste Stelle aufrückt (bei Luther: nur das Fremdgötterverbot); diese Einsparung erlaubt es, an späterer Stelle ein weiteres Gebot einzuführen, das durch Aufspaltung des 10. Gebots (nach jüdischer Zählung) gewonnen wird: Das Verlangen „nach der Frau deines Nächsten“ wird nach katholischer und lutherischer Zählung im 9. Gebot verhandelt, das Verlangen nach dessen Besitz im 10. Anders wiederum verfahren die reformierten und orthodoxen Kirchen, die nämlich das 2. Gebot der jüdischen Zählung aufspalten und das Fremdgötterverbot als 1. Gebot, das Bilderverbot als 2. Gebot auffassen, im Weiteren aber der jüdischen Zählung folgen (vgl. eben Köckert 2007. S. 28-35).
Wie sich die jüdisch-christliche Differenz im Umgang mit dem Zehnwort in der bildlichen Darstellung der Gebotstafeln fortsetzt, lesen Sie im – nach Schawuot erscheinenden – zweiten Teil dieses Beitrags.
Am 19./20. Mai bzw. am 6./7. Siwan wird Schawuot, das Wochenfest, gefeiert, das u.a. die Gabe des Zehnworts bzw. der Tora an das Volk Israel zum Inhalt hat. Als Beilage zu unserer heutigen Melange empfehlen wir die Einführung zu Schawuot von Michael Rosenkranz.